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Zweite Ausgabe. 22. Juli 2022

Liebe Kleist-Freundinnen und Freunde, liebe Mitglieder,

zum Ende der Vorlesungszeit senden wir Ihnen heute die zweite Ausgabe des Berliner Abendletters mit einer Vorschau auf unsere Veranstaltungen im Herbst in Präsenz und online. Merken Sie sich die Termine vor und nehmen Sie Teil am Austausch über Kleist und seine vielfältigen Beziehungen zur Romantik! Versäumen Sie dabei auch nicht die neue Sonderausstellung im Kleist-Museum “Kleist romantisch”, die am 8. Oktober im Rahmen der Kleist-Festtage 2022 eröffnet werden wird.

Unsere erste Ausgabe hat uns viel Zuspruch eingebracht, worüber wir uns sehr gefreut haben! Noch mehr würde ich mich freuen, wenn Sie Artikel für unsere Rubriken einsenden und uns an Fundstücken, Erlesenem oder Ihrem Kleist teilhaben lassen würden! Der nächste Abendletter soll im Oktober erscheinen, Einreichungen hätten entsprechend bis Ende September Zeit.

Das Fundstück in diesem Abendletter ist ein Fund, aber nicht unbedingt ein Fundstück. Doch schienen mir Burkhard Wolters Notizen zu Hans Neuenfels unbedingt lesens-und mitteilenswert, zumal die Erinnerung an den Theatermann auf eigene Weise an das beim letzten Mal vorgestellte Werk Ein von Schatten begrenzter Raum von Emine Sevgi Özdamar anschließen kann: Bei ihrer winterlichen Buchpremiere im Berliner Literaturhaus in der Fasanenstraße war Hans Neuenfels noch im Publikum.

Ich wünsche Ihnen nun viel Spaß beim Stöbern und Lesen im Abendletter und einen möglichst unbeschwerten und schönen Sommer!

Ihre

Anne Fleig

Ankündigungen und Termine

26. November 2022, 15:00 Uhr Kleist-Museum Frankfurt/Oder:

Kleist romantisch – Führung durch die neue Ausstellung mit der Kuratorin Dr. Barbara Gribnitz; anschließend Gespräch mit Prof. Anne Fleig und allen interessierten Mitgliedern über Kleist und die Romantik.

27. November 2022, 11:00 Uhr Deutsches Theater Berlin:

Matinee zur Verleihung des Kleist-Preises an Esther Kinsky

9. Dezember 2022, Studientag Kleist-Museum Frankfurt/Oder:

Kleist im Kontext der Romantik – Der Studientag in Kooperation von Museum und Gesellschaft richtet sich an fortgeschrittene Studierende, Doktorandinnen und Doktoranden sowie alle Interessierten; vormittags stehen Vorträge von Dr. Christiane Holm (Halle), Dr. Sebastian Schönbeck (Bielefeld) und Julia Soytek (Bonn) auf dem Programm; nachmittags werden wir gemeinsam Szenen aus dem Käthchen von Heilbronn lesen und diskutieren.

Vortragsreihe des Kleist-Nachwuchs-Netzwerks: ›Kleist romantisch digital‹

16. November 2022, Dr. Adrian Robanus, Kleist-Museum, Frankfurt (Oder):

»Sie ist außer sich –!«: Kleists Dramatik im Kontext der romantischen Psychiatrie

Adrian Robanus studierte Germanistik und Geschichte in Würzburg und Cambridge; 2018 verteidigte er seine Dissertation zum Thema »Romantiere. Zoopoetik bei Wieland und Wezel«. Von 2017 bis 2021 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität zu Köln, seit 2021 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kleist-Museum in Frankfurt (Oder) an der Schnittstelle zur Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft und Redakteur des Kleist-Jahrbuches. Seit 2022 ist er zudem 360°-Agent der Kulturstiftung des Bundes am Kleist-Museum. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Wissens-, Kultur- und Literaturgeschichte psychischer Alterität, Heinrich von Kleist, Romangeschichte, Aufklärungsforschung (bes. Christoph Martin Wieland, Johann Karl Wezel, Christian Friedrich von Blanckenburg) und die Geschichte der Literaturtheorie.

14. Dezember 2022, Luise Grabolle, Universität Leipzig:

Kleist und die ›romantische Komödie‹

Luise Grabolle studierte Germanistik (B.A. und M.A.) an der Universität Leipzig, wo sie aktuell an einer Dissertation zu Paratextualität sowie Szenen- und Regiebemerkungen in Heinrich von Kleists Dramenpoetik arbeitet. Seit 2020 organisiert sie gemeinsam mit anderen Studierenden und in Kooperation mit dem Literaturhaus Leipzig die Vortragsreihe ›Junges Forum Literaturwissenschaft‹. Seit dem Frühjahr 2022 ist sie zudem als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im PROPYLÄEN-Projekt zur historisch-kritischen Edition der Goethe Tagebücher am Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar tätig.

11. Januar 2023, Lea Liese, Universität Basel:

Von Fieberschüben, Ansteckung und infektiösen Wunden. Kleist und das pathologische (Nicht-)Wissen der Romantik

Lea Liese (Dr. des) studierte Komparatistik und Philosophie in Paris, Berlin, Lille und Bochum, 2021 wurde sie mit einer Arbeit zu kleinen Erzählformen der politischen Romantik promoviert. Seit 2021 ist wissenschaftliche Assistentin/PostDoc an der Universität Basel mit einem Projekt zum politischen Erzählen der Gegenwart. Aktuelle Publikationen u.a. im Sonderheft-Athenäum zum Thema »Romantisierung der Politik«, im Kafka-Jahrbuch, im Hg.-Band Popkultur und Populismen (alle 2022) sowie im Kleist-Jahrbuch (2020).

Die Vortrag-Links werden im nächsten Abendletter verschickt.

Mitteilungen der Mitglieder

Die Herausgeber und Herausgerinnen des Kleist-Jahrbuchs möchten den Rezensionsteil im Jahrbuch zukünftig deutlich verstärken. Wer Interesse hat, daran mitzuwirken und mit einer gewissen Regelmäßigkeit Rezensionen zu verfassen, möge sich an Christian Moser oder Adrian Robanus wenden (c.moser@uni-bonn.derobanus@kleist-museum.de).

An unserer Schnittstelle im Kleist-Museum wird die Liste von aktuellen Kleist-Inszenierungen und Kleist-Adaptionen am Theater weitergeführt. Falls Sie noch aktuelle Kleist-Aufführungen kennen, die in der Liste nicht aufgeführt sind, können Sie gerne Adrian Robanus (robanus@kleist-museum.de) kurz Bescheid zu geben!

Mein Kleist ist …

derzeit der Verfasser der anekdotischen Kurztexte. Einen ‘festen’ Lieblingstext aus seiner Feder vermag ich nicht anzugeben – das variiert von Jahr zu Jahr oder gar von Monat zu Monat. Da ich mich in letzter Zeit aber verstärkt mit der Gattung der Anekdote auseinandergesetzt habe, strahlt die Kurzprosa aus den Berliner Abendblättern aktuell eine besondere Faszination auf mich aus. Was ich daran bewundere, ist die scheinbare Leichtigkeit, mit der Kleist einen unterhaltsamen, witzigen Text aus dem Ärmel schüttelt, der gleichwohl immer auch zentrale gesellschaftliche Konfliktfelder anschneidet und in einer vertrackten literarischen Konstellation fragwürdig erscheinen lässt. Kleists Anekdoten machen soziale Sinnstiftungsprozesse anschaulich und verweisen zugleich auf ihre Kontingenz. Kaum ein Text vermag diese Kontingenz besser in Szene zu setzen als die kurze Geschichte, die er in der Ausgabe der Berliner Abendblätter vom 2. Oktober 1810 unter der Rubrik ›Tagesbegebenheiten‹ publizierte:

Dem Capitain v. Bürger, vom ehemaligen Regiment Tauentzien, sagte der, auf der neuen Promenade erschlagene Arbeitsmann Brietz: der Baum, unter dem sie beiden ständen, wäre auch wohl zu klein für zwei, und er könnte sich wohl unter einen Andern stellen. Der Capitain Bürger, der ein stiller und bescheidener Mann ist, stellte sich wirklich unter einen andern: worauf der etc. Brietz unmittelbar darauf vom Blitz getroffen und getötet ward.

Kleists Text arbeitet mit Ellipsen – jener Art von Ellipsen, die Anschaulichkeit erzeugen und zugleich unterminieren. Zwei Ereignisse – die unhöfliche Rede des Arbeitsmannes und der tödliche Blitzschlag – werden unvermittelt und ohne jede Erklärung neben- bzw. nacheinander gestellt. Der Text arbeitet aber zugleich auch mit dem Gegenprinzip zur Ellipse, der Redundanz. Denn zum einen führt er den Arbeitsmann gleich bei seiner ersten Erwähnung als »erschlagen[ ]« ein, wodurch sein Tod proleptisch vorweggenommen wird. Das kontingente Ereignis des Blitzschlags wird auf diese Weise doppelt erzählt und besonders akzentuiert. Zum anderen wird die zeitliche Folge durch die redundante Formulierung (»worauf […] unmittelbar darauf«) stark hervorgehoben. Der Text erzählt mithin zugleich zu wenig (elliptisch) und zu viel (redundant), ohne dass sich dieses Mehr und Weniger in anschauliche Erkenntnis ummünzen lässt. Denn wer durch das bloße Nacheinander von Beleidigung und Blitzschlag dazu verleitet wird, Ähnlichkeiten zu hypostasieren, kausale oder teleologische Beziehungen zwischen den Ereignissen zu konstruieren und dergestalt sichtbaren Sinn zu stiften – dadurch etwa, dass der Blitzschlag als Strafe für die Verbalinjurie lesbar gemacht wird –, tappt in eine Falle. Der Tod durch Blitzschlag wäre als Strafe für eine bloße Unhöflichkeit vollkommen unverhältnismäßig. Ein Gott, der eine bloße Unhöflichkeit mit dem Tode bestraft, wäre kein gerechter Gott. Das Interpretament der Strafe markiert einen Exzess an Sinn und einen Exzess an Anschaulichkeit, der Sinnstiftungs- und Veranschaulichungsprozesse desavouiert. Er konfrontiert den Leser/die Leserin mit eben jener Gewalt, die seinen/ihren kulturell kodierten Deutungsaktivitäten immer schon innewohnt und der die Randfiguren der Gesellschaft – hier: der unständische Arbeitsmann – zum Opfer fallen.

Christian Moser

Fundstück: Hans Neuenfels als Lyriker

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Am 06. Februar 2022 ist der Regisseur und Filmemacher Hans Neuenfels in Berlin gestorben. Bis zuletzt hat er an seinem Buch FAST NACKT. Letzte Texte(München: Eisele Verlag 2022) gearbeitet, er sollte die Fertigstellung des Buches nicht mehr erleben. In seinen Texten wird der Name »Kleist« nicht erwähnt. In ihrem sehr informativen Nachruf schreibt Elke Heidenreich u.a.: »Er schrieb erste Gedichte, veröffentlichte schon 1963 den Gedichtband Mundmündig mit Zeichnungen von Max Ernst, für den er einige Zeit in Paris gearbeitet hat. Neue, noch unveröffentlichte Gedichte durften wir mit seiner Einwilligung in diesem Buch aufnehmen.« Im Inhaltsverzeichnis des Buches werden die gut 20 Gedichte nicht einzeln aufgeführt. Man muss sich das Buch also anschaffen und es lesen, dann findet man auf S. 228 das Kleist-Gedicht:

NOTIZ ZU KLEIST

Manchmal gelingt es, Zuflucht in einer 
grenzenlosen Bewunderung zu finden.
Er hatte den Frühling
Zwischen den Augen 
Aber die Wimper Herbst
Hing schon quer in die Iris
Und verschrägte den Blick
Keine Schneeflocke kam
Die Jahreszeiten hörten auf
Der Tag brüllte ihn an
Barhäuptig salutierte er
Salutierte er der Sehnsucht
Und spähte lidlos nach
Seiner Seele im Hirngespinst

Das erinnerte mich daran, dass es noch in einem anderen Neuenfels-Buch Kleist-Gedichte gibt. Und zwar in dem Band Das Bastardbuch. Autobiografische Stationen (München: Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann 2011). Auf S. 342 findet man die erste Fassung eines titellosen Kleist-Gedichts, auf S. 343 eine überarbeitete Fassung des Gedichts. An anderer Stelle scheibt Neuenfels:

Jetzt kann ich es euch gestehen. Mein größtes Glück wäre es gewesen, die Freie Volksbühne in ›Heinrich von Kleist Theater‹ umbenennen zu dürfen. Da es nicht und nie mehr möglich ist, bleibt nur ein Gedicht übrig, das ich geschrieben habe:

KREUZWORTRÄTSEL KLEIST

Immer musste er leisten. 
Im Gegensatz zu den meisten
Blieb er bei seinen Leisten:   
In seiner Phantasie.
Erst spät ging er in die Knie,
Weil er sich nie verzieh
Nicht Erster auf der Flöte
Zu sein. Schiller und Goethe
Trieben ihm die Röte
Aufs Gesicht.
Dennoch versteckte er nicht
Bescheiden sein Lebenslicht.
Eines Tages im Abendschein
Trank er neben einer Frau allein
Noch ein letztes Gläschen Wein
SEELENRUHIG UND DREIST

Es besteht nun die Möglichkeit, eine weitere Facette im Schaffen von Hans Neuenfels kennenzulernen.

Burkhard Wolter

Erlesenes: Aktuelle Kleist-Illustrationen

Kleists Werke für Kinder – geht das? Das geht! In der Reihe ›Weltliteratur für Kinder‹ des Kindermann-Verlags, Berlin, hat die Autorin und Verlegerin Barbara Kindermann (1955–2020) Kleists Dramen Der zerbrochne Krug und Das Käthchen von Heilbronn in Prosa für Kinder nacherzählt. Dabei integriert sie durchaus Originalzitate Kleists, die kursiv markiert werden. Willi Glasauer(2011 zum Krug) und Christa Unzner (2006 zum Käthchen) übernahmen die Bebilderung. Besonders spannend, da künstlerisch eine noch eigenständigere Interpretation von Kleists Stück sind dabei Unzners Illustrationen zum Käthchen. Im Ganzen sind beide Bände gelungene Übertragungen von Kleists komplexen Texten für eine breite Leserschaft: von den Kleinen bis zu den vorlesenden Großen. Natürlich musste dabei notgedrungen reduziert werden: So fokussiert sich der Käthchen-Band v.a. auf die Liebeshandlung und sowohl die Komik als auch die Abgründigkeit des Krugs gehen in der (überraschend dialoglastigen und etwas umständlich wirkenden) Prosa-Fassung des Bilderbuchs etwas verloren.

Es gibt übrigens noch mehr Bilderbücher zu Kleists Werken – dieses Mal primär für Erwachsene: Die ukrainisch-deutsche Illustratorin Hanna Jung (geb. 1992) hat als Teil ihres Bachelorprojekts an der Berliner Technischen Kunsthochschule sehr gelungen Kleists Über das Marionettentheater illustriert (2019 als Band im Kunstanstifter Verlag, Mannheim, erschienen).

Ähnlich interessant ist die Bebilderung der Marquise von O…. durch Andrea Grosso Ciponte (geb. 1977), einen kalabrischen Maler, Filmemacher und Professor für Computergrafik an der Akademie der Bildenden Künste in Catanzaro. Kleists Dramentext wurde dabei von der italienischen, experimentell-essayistisch schreibenden Autorin Dacia Palmerino (geb. 1978) adaptiert. Dieses ›Bilderbuch für Erwachsene‹ ist 2015 (in deutscher Übertragung oder sozusagen ›Rück-Übersetzung‹) bei Edition Faust, Frankfurt/M., erschienen.

Vor kurzem wurde auch die Graphic Novel Feuergeist publiziert, in der sich zwölf Studierende der Hochschule Burg Giebichenstein in Halle/Saale graphisch dem Leben des Autors annähern. Heinrich von Kleists Werk fasziniert daher Illustratorinnen und Illustratoren bis heute, ja in den vergangenen Jahren sind besonders viele Text-Bild-Kunstwerke dazu erschienen. Diese überzeitliche künstlerische Inspirationskraft von Kleists Texten liegt sicher u.a. in ihrem expressiven Bildreichtum und ihren nach wie vor aktuellen Themen begründet. Wenn Sie noch weitere Beispiele solcher aktueller Kleist-Illustrationen kennen, wäre ich Ihnen für einen Hinweis dankbar, da ich dieser reizvollen Frage wissenschaftlich weiter nachgehen möchte.

Andrea Bartl