Jahrhundertfund – Neu entdeckte Briefe Heinrich von Kleists

Funde weiterer Lebensspuren Heinrich von Kleists

Im Nachlass des österreichischen Diplomaten Joseph von Buol-Berenberg (1773–1812) wurden neben den fünf bislang unbekannten Kleist-Briefen hunderte weitere Briefe ­gefunden. Als besonders ergiebig haben sich 22 Briefe des engen Kleist-Freundes Ernst von Pfuel (1779–1866) erwiesen sowie ein Briefwechsel zwischen dem österreichischen Schriftsteller und Politiker Friedrich Gentz (1764–1832) und dem Philosophen und Ökonom Adam Müller (1779–1829), der mit Kleist zusammen das Kunstjournal ›Phöbus‹ herausgab. Neben diesen Funden kann zudem die bislang nur auf Vermutungen basierende Zuschreibung der mathematischen Skizze einer Tragödientheorie an Kleist aus der jüngst (wieder-)­gefundenen Autobiografie Christian Gottlieb Hölders (1776–1847) verifiziert werden.

22 Briefe Ernst von Pfuels

Die von Hermann F. Weiss im Herbst 2023 im Familienarchiv Buol-Biegeleben im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum (TLMF) in Innsbruck entdeckten fünf unbekannten Kleist-Briefe waren vermutlich vom Tiroler Sammler Andreas Alois Di Pauli (1761–1839) für eine Bindung in Briefsammlungen vorbereitet worden. Im unmittelbaren archivarischen Umfeld und mit an die Kleist-Nummerierungen anschließenden Paginierungen tauchten 22 Briefe des späteren preußischen Generals und Ministerpräsidenten Ernst von Pfuel auf, die wie die Briefe Kleists an Joseph von Buol-Berenberg adressiert sind.

Den Briefen Ernst von Pfuels kommt nicht nur aufgrund des Zeitraums und Umfangs Bedeutung zu. Ausgewertet und kommentiert wurden sie von Martin Roussel (Universität zu Köln) auf Basis gemeinsam mit Günter Dunz-Wolff erstellter Transkriptionen. Kleist und Pfuel kannten sich seit ihrer gemeinsamen Zeit beim Militär in Potsdam (1797). Der Zeitrahmen der Briefe von Mai 1809 bis Dezember 1811 wird durch eine Wartephase im Leben Buols abgesteckt, der als Folge des Fünften Koalitionskrieges das mit Frankreich verbündete Sachsen im April 1809 verlassen musste und erst im Frühjahr 1812 als österreichischer Geschäftsträger nach Kopenhagen berufen wurde. Wie Kleist, der Buol folgte, ging Pfuel zunächst nach Prag, in der Hoffnung, von dort aus nach Wien zu gelangen. Aufgehalten durch die Kriegsereignisse bei Wien, wurden beide zu Augenzeugen von Napoleons Einzug in Wien (Pfuel) bzw. den Ereignissen um die Schlacht bei Aspern (Kleist).

Pfuel schrieb in der Folge aus Bayreuth, wo er als Hauptmann der Fränkischen Legion stationiert war. Hier gab er die kurzlebigen ›Baireuther Kriegs-Blätter‹ heraus, die als Propagandaschrift wohl auf die lokale Bevölkerung gerichtet waren. Der Neu-Redakteur suchte dabei dezidiert Kleists Unterstützung und bat seinen Briefpartner wiederholt: »L’ode de Kleist, je vous en prie.« – Kleists ›Germania an ihre Kinder, eine Ode‹ war gemeint, die nach dem Scheitern von Kleists ›Germania‹-Zeitschriftenprojekt im Spätsommer / Herbst 1809 erst 1813 von Pfuel erstveröffentlicht wurde. Nach dem Frieden von Schönbrunn Mitte Oktober wurde auch die Fränkische Legion schrittweise aufgelöst. Pfuel jedoch war an Plänen zu einem Volksaufstand in Sachsen beteiligt. Politisch war das nach dem Friedensschluss alles andere als opportun; zwischenzeitlich wurde er sogar im heutigen tschechischen Most inhaftiert, wo der »pauvre prisonnier« (»arme Gefangene«) seine Lage eindringlich beklagt vor dem Hintergrund »d’un Plutarque anglois, que Kleist a apparemment choisi pour me faire imiter les vertus des anciens, et surtout leur patience.« – Kleist also, der sich selbst ohne validen Plan und mit Schulden kurz vor der Abreise aus Prag befand, hatte ihm den Stoizismus Plutarchs anempfohlen. Zugleich nutzte Pfuel die Zeit und schickt Buol »quelques réflexions sur la guerre« (4. Oktober), bei denen es sich wohl um die 1987 / 88 von Hermann F. Weiss veröffentlichten anonymen ›Betrachtungen über den Krieg‹ handeln dürfte, für die Pfuel als Autor nun sehr wahrscheinlich gemacht werden kann.

Kleist war den Winter 1809 / 10 auf seiner rätselhaften Reise, die ihn nach Frankfurt am Main führte, und die, so wissen wir aus seinem Brief vom 28. Januar 1810 aus Gotha, in einem »Unglück« endete. In seinem ersten Brief aus Berlin am 20. Februar weiß Pfuel jedoch zu berichten:

Zu meiner Verwunderung habe ich Kleist hier in B[erlin] getroffen, nach einem Verschwinden von mehreren Wochen, das niemand hier zu enträthseln weiß, und dessen Ursach er jedem verschweigt ist er wieder erschienen, gesünder und besser humorisirt als je. Wie er mir sagt so will er sich ebenfalls um eine Anstellung bewerben die den doppelten Zweck erfülle seinen Unterhalt zu sichern und seiner Muse Spielraum zu gestatten. Er arbeitet jetzt an einem brandenburgischen Stoff.

Es handelt sich um die erste bekannte Erwähnung des Stoffes zum ›Prinz Friedrich von Homburg‹. Und auch in den folgenden Monaten zeigt sich Pfuel an Kleists Wirken interessiert und erkundigt sich nach Buols Eindrücken der Wiener Aufführung des Dramas ›Das Käthchen von Heilbronn‹. Anfang 1811 bittet er Buol um Wiener Nachrichten für Kleists ›Berliner Abendblätter‹, die sich zunehmend für internationale Meldungen öffneten. – Der ›Schwimmvater Pfuel‹, der die Anatomie eines Menschen gerne mit der eines Froschs verglich und deshalb das Brustschwimmen in neu gegründeten Schwimmschulen einführte, machte in den Befreiungskriegen militärische Karriere und wurde 1848 sogar für wenige Wochen preußischer Ministerpräsident.

Vgl. Martin Roussel, »L’ode de Kleist, je vous en prie.« Heinrich von Kleist in neu entdeckten Briefen Ernst von Pfuels an Joseph von Buol-Berenberg aus den Jahren 1809 bis 1811. In KJb 2024, S. 113–141.

Briefwechsel zwischen Friedrich Gentz und Adam ­Müller

Im Korpus der Briefe an Buol hat Klaus Müller-Salget (Universität Innsbruck) weitere kleine Lebensspuren Kleists ausfindig machen können, so vom österreichischen Freiheitsdichter Johann Heinrich Collin (1771–1811), der in einem Gentz-Brief zitiert wird, vom Prager Oberstburggrafen (Stadthauptmann) Franz Anton von Kolowrat-Liebsteinsky (1778–1861) und von Andreas Chrysogon Eichler (1762–1841), Kurinspektor und Polizeioberkommissar im böhmischen Teplice. Interessanter erweist sich ein von Müller-Salget gesichteter Briefwechsel zwischen Friedrich Gentz und Adam ­Müller, in dem Gentz Kleists Beiträge für den ›Phöbus‹ kritisiert, der in ­Dresden über das Jahr 1808 verteilt in zwölf Heften erschien. Bekannt waren bislang nur Müllers Reaktionen (allerdings, wie jetzt ersichtlich wird, in gekürzten Textwiedergaben) auf die Vorwürfe Gentz’, nicht aber dessen Schreiben selbst. Die Wahl des ›Penthesilea‹-Fragments als Eröffnungsstück hält Gentz für »bis zur Verwegenheit kühn«, die Hauptfigur habe ihn »mit Grausen und Entsetzen erfüllt […]. Es giebt nicht zehn Menschen in Deutschland, die für ein solches Wagstück zu gewinnen wären.« Als Antwort auf Müllers »Notwehr« gegenüber diesen Angriffen fordert Gentz, Kleist solle nicht die Rolle eines »Vorfechter[s] für die Nachwelt« (Müller) einnehmen. Rhetorisch pointiert Gentz das in einer – allerdings de facto an Müller adressierten – Ansprache an Kleist:

Was haben wir mit diesem Mann-Weibe und ihren thierischen Rasereyen zu schaffen? Warum sollen die Hunde Ihrer Pentisilea auch mich zerfleischen, mich, der ich Muth, und Heiterkeit, und Lebensfülle, und Glaubenskraft bedarf, um die Hunde und Henker meiner Zeit von dieser blutigen Bühne zu vertreiben?

›Die Marquise von O….‹ hält Gentz (diesmal Buol gegenüber) als Erzählung für »eine ganz gewöhnliche; der Vortrag ist artig, aber keinesweges distinguirt; an vielen Stellen, wo nicht langweilig, doch lang, an manchen nicht delikat genug für einen so delikaten Stoff«. Buol wie Müller wiesen diese Vorwürfe entschieden zurück, insofern, so Buol, »Ihr Urtheil über die Marquise von O. am meisten befremdete, und daß wir es beide – mit Ausnahme nur weniger Stellen – viel zu hart und noch mehr fanden.« – So wenig Gentz’ Kritik aus heutiger Sicht überzeugt, bleibt sein Zeugnis auch als realistische Einschätzung der Publikumswirkung von Bedeutung.

Vgl. Klaus Müller-Salget, Neue Funde zur Kontroverse zwischen Adam Müller und Friedrich Gentz um Kleists Beiträge zum ›Phöbus‹. In KJb 2024, S. 143–153.

›Erinnerungen aus meinem Leben‹ von Christian Gottlieb Hölder

Neben den TLMF–Funden konnte Hermann F. Weiss im April 2023, einer alten Spur des Kleist-Forschers Paul Hoffmann (1866–1945) folgend, auch die ›Erinnerungen aus meinem Leben‹ von Christian Gottlieb Hölder ausfindig machen, die im Landesarchiv Baden-Württemberg in Stuttgart liegen. Es handelt sich um eine autobiografische Schrift Hölders, der sich hier u. a. an seinen Aufenthalt in der Schweiz in den Jahren 1801 bis 1804 erinnert. Eine (im Übrigen entstellende) Fassung seiner Erinnerungen an Kleist (ohne namentliche Nennung) war bereits aus Hölders ›Meine Reise über den Gotthard‹ (1803 / 04) bekannt. Hölder war als Hofmeister auf dem Landgut des Schweizer Politikers Niklaus Friedrich von Mülinen (1760–1833) angestellt, das direkt gegenüber der kleinen Aare-Insel lag, auf der Kleist 1802 wohnte: »Oft sahen wir ihn stundenlang in einem braunen Curé, den wir seinen Pestrock nannten, auf seiner Insel mit den Armen fechtend auf und abrennen, und declamiren.« Hier habe Kleist ihm dargelegt, inwiefern »die Gesetze des Trauerspiels […] sich in einer sehr einfachen mathematischen Figur darstellen« ließen, mit einer beigefügten Dreieckszeichnung, die schon aus der ›Reise über den Gotthard‹ bekannt ist. Erstmals kann diese Tragödientheorie jetzt als Werk Kleists sicher ausgewiesen werden. All dies muss bereits Paul Hoffmann bekannt gewesen sein, der jedoch nur Hinweise ohne Kleist-Nennung publizieren konnte, bevor sein Haus mit vielen Kleist-Materialien 1945 zerstört wurde.

Vgl. Hermann F. Weiss, Christian Gottlieb Hölders ›Erinnerungen aus meinem Leben‹ und ›Meine Reise über den Gotthard‹ als Quellen für die Kleist-Forschung. In KJb 2024, S. 155–177.

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