Jahrhundertfund – Neu entdeckte Briefe Heinrich von Kleists

Vorstellung und Einordnung der Briefe

Zum Kontext der Briefe

Die neu aufgefundenen fünf Briefe Heinrich von Kleists (1777–1811), datiert zwischen dem 22. Mai 1809 und dem 28. Januar 1810, sind an den österreichischen Diplomaten Joseph von Buol-Berenberg (­1773–1812) gerichtet. Kleist hatte Buol im Sommer 1807 als Legationsrat der österreichischen Gesandtschaft in Dresden kennengelernt. Buol war Zentrum eines Kreises von Patrioten, die auf einen Kriegseintritt Preußens gegen Napoleon hinarbeiteten. Spätestens durch die Bekanntschaft mit Buol und dessen Kreis begann Kleists zunehmend anti-napoleonische und patriotische Orientierung, die eine Reihe an – z.T. bis heute kontrovers diskutierten – politischen Schriften hervorgebracht hat. Hierzu zählen Kleists politische ›Lieder‹, der ›­Katechismus der Deutschen‹ sowie die Dramen ›Die Herrmannsschlacht‹ und ›Prinz Friedrich von Homburg‹.

Die neu entdeckten Briefe fallen überwiegend in die Zeit des ­Fünften Koalitionskrieges (April bis Oktober 1809) zwischen Österreich und Frankreich, auf dessen Seite das von Napoleon zum Königreich erhobene Sachsen kämpfte. Als Buol deshalb ­Dresden im April 1809 verlassen musste, reiste ihm Kleist gemeinsam mit dem späteren ­Historiker und Staatsmann Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860) in Richtung Prag hinterher. Die Weiterreise nach Wien scheiterte am Einzug Napoleons in die Stadt, jedoch gelangten Kleist und Dahlmann in unmittelbare Nähe des Marchfeldes am linken Donauufer, wo am 21./22. Mai die Schlacht bei Aspern stattfand. Die ersten Briefe zeigen Kleist als euphorischen Augenzeugen dieser Schlacht und als Berichterstatter, der Buol mit tagesaktuellen Informationen zum Schlachtgeschehen versorgte. Kleists Euphorie wich einer tiefen Enttäuschung nach der für Österreich verlorenen Schlacht bei Wagram (5./6. Juli). Kleists (und Dahlmanns) Pläne zur Gründung einer Zeitschrift mit dem Titel ›Germania‹ wurden obsolet; in Berlin kursierten gar von u.a. Adam Müller verbreitete Gerüchte über Kleists Tod in einem Prager Spital. Um den Jahreswechsel 1809/10 verliert sich Kleists Spur für mehrere Wochen. Der fünfte Brief bringt etwas Licht in diese Phase und berichtet über eine rätselhafte Reise, die Kleist u.a. nach Frankfurt am Main geführt hate. Er musste diese Reise allerdings abbrechen und entschloss sich, nach Berlin zu gehen, wo er Anfang Februar 1810 ankam und bis zu seinem Tod geblieben ist.

1. und 2. Brief, Stockerau, 22. und 23. Mai 1809

Die vorläufigen Nachrichten, die ich Ihnen schon gestern gegeben habe, waren so ziemlich gegründet; doch will ich Ihnen das, was ich aus dem Munde eines Obristlieut. und eines Pfarrers, die, unter mehreren Menschen, auf der Spitze des Berges versammelt waren, erfahren habe, noch einmal, so getreu als ich vermag, aufschreiben.

Aus Kleists bereits bekanntem Brief an Buol vom 25. Mai 1809 wusste man, dass Kleist ihm wenige Tage zuvor zwei Briefe mit ausführlichen Informationen über die Schlacht bei Aspern (21./22. Mai 1809) geschickt hatte. Diese beiden im unmittelbaren Bezug aufeinander geschriebenen Briefe liegen nun vor. Sie enthalten Schilderungen der Schlacht, in der nach Kleists Ansicht das »Schicksal von Deutschland« entschieden werde. Hierzu war Kleist am Tag nach der Schlacht auf den am Rand des Wiener Beckens gelegenen Bisamberg gestiegen, und hatte von dort das Marchfeld u.a. mit einem Fernrohr beobachtet. Neben dem auch in Stockerau vernehmbaren Kanonendonner und sonstigen Anzeichen aus dem Umfeld des Schlachtgeschehens griff er auf Augenzeugenberichte und Bulletins des österreichischen Militärs zurück. Besonders fesseln ihn die durch eine österreichische Einheit verursachten Durchbrüche der französischen Pontonbrücken über die Donauarme, welche den Nachschub der Franzosen entscheidend beeinträchtigten. Seine anfänglichen Sorgen wegen der französischen Siege zu Beginn des Fünften Koalitionskrieges schlagen in Euphorie über die erste Niederlage Napoleons auf dem Schlachtfeld um. Kleist rechnet damit, bald in Wien einzutreffen, seine Kriegslieder veröffentlichen zu können, und bittet Buol um Empfehlungsschreiben.

Die Schlacht scheint nun, ohne allen Zweifel, entschieden; gleichwohl hört man hier immer noch kanonieren, welches jedoch kaum von etwas Anderem, als vom Verfolgen der erfochtenen Vortheile herrühren kann. Man hat jetzt die fr. Armee auf dem Punct, um Rache an ihr zu nehmen, für Ulm und Jena und Austerlitz; und ich denke, der Erzh. Carl wird diesen Augenblick nicht entschlüpfen lassen. (An Joseph von Buol, Stockerau, 23. Mai 1809, in: KJb 2024, S. 44f.)

3. Brief, Prag, 24. Juli 1809

Ich begreife nur nicht, wie der 21t u. 22t Mai mich, von der festen Überzeugung, die ich in Dreßden hatte, abbringen konnte; denn in den Brüsten der Deutschen liegt ihr Feind, und wenn auch der 5t u. 6t Juli, und, wenn Sie wollen, der ganze Krieg gewonnen worden, so würde das Vaterland, falls man diesen Feind nicht zu bekämpfen gewußt hätte, nichts desto weniger untergegangen sein.

In der Folge von Napoleons Sieg bei Deutsch-Wagram (5./6. Juli 1809) und des Waffenstillstandsabkommens (12. Juli 1809) sieht Kleist, nunmehr nach Prag zurückgekehrt, nicht nur seine Hoffnungen auf einen Sieg über Frankreich oder auf einen Kriegseintritt Preußens getäuscht; die Ursachen für die Niederlage erkennt er in seiner schon in Dresden vertretenen Meinung, dass die deutschsprachigen Länder ihre innere Zerrissenheit und Sonderinteressen überwinden müssen, um gegen Napoleon zu siegen. Kleist empört angesichts der von ihm geforderten Notwendigkeit eines größeren Befreiungskrieges aller ›Deutschen‹ das alltägliche Treiben in Prag: »Oft, wenn ich durch die Straßen von Prag gehe, und denke, in welchem Krieg das Reich, zu welchem diese Stadt gehört, begriffen ist, so kommt es mir vor, ich träume. Was wollen diese Seidenhändler und Putzkrämer? […] – Doch ich falle, wie ich sehe, aus der Rolle, und schweige. –« Desillusioniert schwankt er zwischen heroischen Konzepten wie einer »Rettung im Untergang« und nüchternen strategischen und militärpolitischen Erwägungen. Ihn beschleichen Zweifel an der Rolle des politischen Dichters, und er gewinnt sogar dem Nichtzustandekommen des ›Germania‹-Projektes Positives ab. Wie so oft befindet er sich in einer finanziellen Notlage, fühlt sich aber außerstande, an seine »alten Gedanken« anzuknüpfen, an liegen gebliebene dichterische Projekte.

4. Brief, Prag, 18. August 1809

Ich erwache früh Morgens, ohne mich der Sonne zu freuen, durchquäle mich den Tag mit Gedanken, wie die Dinge zu retten seien, und bin müde des Abends von Nichtsthun. –

In diesem gleichfalls in Prag verfassten Brief beklagt Kleist, dass er keine »Rettung« für Deutschland und keine Hoffnung mehr für eine Publikation seiner politischen Schriften sehe. Dem Brief entnehmen wir, dass er zusammen mit diesem die Manuskripte seiner politischen Dichtungen an Buol gesendet hat. Zu dem Konvolut gehört auch ein bislang nie erwähnter unbekannter Text, betitelt »Don Quixote«. Leider fehlen bislang alle Hinweise, wo diese Manuskripte verblieben sein könnten. Ein erstes Anzeichen einer Neuorientierung Kleists ist sein gegenüber Buol geäußerter Wunsch, sich mit Adam Müller (1779–1829) zu versöhnen und mit weiteren ­Dresdener guten Bekannten wie Sophie von Haza (1775–1849) in Verbindung zu treten. Doch sein Interesse an antinapoleonischen Militäroperationen ist nicht erloschen. Er möchte von Buol das Neueste über Bewegungen des vom Herzog von Braunschweig geführten Freicorps erfahren. Solche Freicorps, ähnlich wie die des preußischen Majors Ferdinand von Schill (1776–1809) oder die Fränkische Legion, der Ernst von Pfuel (1779–1866) angehörte, hatten sich an verschiedenen Orten formiert, konnten aber das Anliegen der Kriegspartei in Preußen nicht entscheidend stärken.

Ich überschicke Ihnen die Herrmannsschlacht, den Don Quixote und überhaupt Alles, was ich, für diesen Krieg, geschrieben habe: Auf gewisse Weise haben Sie alle diese Aufsätze veranlaßt; und somit gehören sie Ihnen. (An Joseph von Buol, Prag, 18. August 1809, in: KJb 2024, S. 58f.)

5. Brief, Gotha, 28. Januar 1810

Ich liege hier krank, auf der Rückreise von Frankfurt a/M. zu der ich mich nothgedrungen habe entschließen müssen. — Und weil Alles so gekommen ist, wie es kam, so will ich mich auch nicht weiter grämen, sondern wie der Bastard im Shakespear sein, und es den Sternen in die Schuhe schieben. — (An Joseph von Buol, Gotha, 28. Januar 1810, in: KJb 2024, S. 64f.)

Im fünften Brief schreibt Kleist von den Folgen eines gescheiterten Projekts, das ihn nach Frankfurt am Main geführt hatte. Der Brief bleibt rätselhaft, da er Informationen aus dem unmittelbar vorhergehenden, leider verschollenen Briefwechsel mit Buol voraussetzt. Sicher ist immerhin, dass während seines längeren Aufenthalts in Frankfurt am Main ein von ihm verfolgter Plan aus seiner Sicht nur daran gescheitert war, dass es ihm an Geld gefehlt habe, und er deswegen »nothgedrungen« nach Berlin abreisen muss. Man kann nur mutmaßen, welchen Plan er verfolgt hatte, z.B. die Gründung einer Zeitschrift? Trotz des von ihm als »Unglück« bezeichneten Ereignisses, das ihn belastet, sinnt er schon wieder über das »einzige[ ] Geschäfft in der Welt«, das ihm wichtig sei: das Dichten. Allerdings beklagt er die damit verbundenen »nichtigen, nichtswürdigen Anstalten«, seine Dichtungen bei Verlegern oder Theatern unterzubringen. Hierzu gehört sicher auch das diesem Brief an Buol beiliegende Bittschreiben an den österreichischen Freiheitsdichter Heinrich Joseph von Collin (1771–1811), in dem es um mögliche Theater-Aufführungen der Dramen ›Das ­Käthchen von Heilbronn‹ und ›Die Herrmannsschlacht‹ geht.

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