Im Herbst 2023 entdeckte der renommierte Literaturwissenschaftler und Quellenforscher Hermann F. Weiss im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum (TLMF), Innsbruck – neben hunderten weiterer Briefe – die fünf unbekannten Briefe Heinrich von Kleists aus den Jahren 1809 und 1810. Überliefert wurden die Briefe im Nachlass ihres Adressaten, des österreichischen Diplomaten Joseph von Buol-Berenberg (1773–1812). Kleist und Buol hatten sich in Dresden kennengelernt, wo Buol Legationsrath der österreichischen Gesandtschaft war. Nach dem Sieg Napoleons in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt war Sachsen französisch besetzt. Mit dem Fünften Koalitionskrieg, in dem Sachsen auf Seiten Napoleons gegen Österreich positioniert war, musste Buol Dresden verlassen und Kleist folgte ihm zunächst nach Prag. Buol zog nach dem Friedensschluss von Schönbrunn zwischen Österreich und Frankreich nach Wien; erst im Frühjahr 1812 wurde er als Geschäftsträger nach Kopenhagen berufen. Hier starb er bereits im August desselben Jahres.
Durch diese Umstände wird der zeitliche Rahmen des Briefwechsels abgesteckt. Die Hintergründe konnten erst durch die Nachforschungen von Hermann F. Weiss geklärt werden: Buols Wiener Nachlass verwaltete der mit ihm befreundete Jurist Joseph Rapp (1780–1865), dessen Aktivitäten durch seine Briefe an Buols Bruder Gebhard (1775–1824) belegt sind, die Weiss im Mühlinger Schlossarchiv der Buols (Südbaden) fand. Dieses Archiv – als im Übrigen letztes der privaten Adelsarchive im Hegau – wurde erst im Jahr 2000 im Rahmen seiner Einlagerung ins Kreisarchiv Konstanz zugänglich. Allerdings haben über Jahrzehnte zwei getrennte Buol-Archive existiert: Die umfangreiche Briefsammlung lagerte nach Buols Abreise Richtung Kopenhagen zunächst bei Franz Seraphicus Anton von Buol (1794–1865), einem jüngeren Cousin Buols im Theresianum (Wien), bevor Rapp sie 1817 an den Tiroler Sammler Anton Alois Di Pauli (1761–1839) auslieh, eine der Gründungsfiguren des TLMF in Innsbruck. Wahrscheinlich war es Di Pauli, der die Briefe nummerierte und für eine Bindung vorbereitete. Infolge von verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Familien Di Pauli, von Biegeleben und von Buol-Berenberg dürften die Briefe zu einem noch unbekannten Zeitpunkt in das stattliche Biegenleben’sche Anwesen in der Fagenstraße Nr. 5 in Bozen gelangt sein, das Ignaz von Buol-Berenberg (1927–1997) erbte. Nach dessen Verkauf kam der Briefschatz samt dem Familienarchiv etwa 1979 in den Buol-Ansitz in Kaltern (gleichfalls in Südtirol). Nach dem Verkauf dieses Anwesens im Jahr 2006, wurde das Archiv im Di-Pauli-Ansitz Fennhals zwischengelagert, wo Anton Di Pauli (geb. 1924) es 2006 Roland Sila zeigte, dem heutigen Leiter der Bibliothek des TLMF. Die Lagerung in einem Keller, z.T. in Obstkisten, machte eine rasche Bergung erforderlich. Am 31. August 2007 wurde das Archiv, dessen historischer und finanzieller Wert damals kaum bekannt war, dem TLMF als »Schenkung Familie von Buol-Berenberg« übergeben.
Diese komplizierten Überlieferungsverhältnisse sind u.a. dafür verantwortlich, dass Kleist-Forschende trotz jahrzehntelanger Suche in europäischen Archiven nie auf den Buol’schen Nachlass gestoßen waren. Seit 1980 war Hermann F. Weiss bekannt, dass sich sowohl im Schloss Mühlingen als auch im Buol-Ansitz in Kaltern je ein Archiv der Familie Buol-Berenberg befand, die beide nicht zugänglich waren. Erst als Weiss, nach zwanzigjähriger Abwesenheit von der Kleist-Forschung, 2022 die Suche wieder aufnahm, stieß er auf ein 2011 veröffentlichtes Findbuch, in dem das Mühlinger Schlossarchiv verzeichnet war. Das Südtiroler Landesarchiv Bozen machte Weiss am 22. Juli 2022 auf die mittlerweile erfolgte Verlagerung des Familienarchivs Buol-Biegeleben (in Kaltern bzw. Fennhals) ins TLMF aufmerksam. Nikolaus Bliem, einer der Bibliothekare im TLMF, arbeite vom 27. Juli 2022 bis zum 2. Oktober 2023 an einem Grobverzeichnis der 289 ungeordneten Kisten, das er Weiss abschnittsweise zuschickte. Die Lieferung vom 17. August 2023 enthielt Hinweise auf die Kisten 142 und 182, in denen Weiss mehrere der Kleist-Forschung bekannte Namen entdeckte. Der Bitte um gründliche Durchsicht der Kiste 142 folgend, erwähnte Bliem am 2. Oktober 2023 zunächst einen Kleist-Brief, am 5. Oktober drei weitere sowie 22 Schreiben Pfuels. Bald darauf wurde auch der Brief vom 22. Mai 1809 identifiziert. Bliem erkannte, dass diese Briefe wie alle in der Kiste von Di Pauli mit Seitenzahlen versehen und dass davon manche von ihm zusammengeklebt worden waren als Vorbereitungen für die Bindung zu Bänden. Von der Papierrestaurierungsabteilung des TLMF konnten die Papiere wieder gelöst werden, wodurch der Text im Bund wieder lesbar gemacht werden konnte
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