© Lorenz Becker Photographie
Der Kleist-Preis des Jahres 2022 geht an die 1956 im Rheinland geborene Schriftstellerin und Übersetzerin Esther Kinsky. Die Verleihung soll am 27. November während einer Matinée im Deutschen Theater erfolgen. Gemäß der Tradition des Kleist-Preises hat der Autor und Kritiker Paul Ingendaay – als von der Jury der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft gewählte Vertrauensperson – in alleiniger Verantwortung Esther Kinsky zur Preisträgerin bestimmt. Seine Begründung lautet:
»Esther Kinsky hat ein literarisches Werk von beeindruckender stilistischer Brillanz, thematischer Vielfalt und eigensinniger Originalität geschaffen. In den Büchern dieser Autorin, die als Übersetzerin begann und deren Poetik wesentlich vom Zusammentreffen slawischer Sprachen mit dem Englischen und Deutschen mitgeformt wurde, tritt der radikale Blick der Einzelgängerin wieder in sein Recht: Wandernd, beobachtend, sich vortastend aus anfänglichem Fremdsein, sehen Kinskys Erzählerinnen Menschengeschichten nur als Teil der sie umgebenden Naturgeschichte. Den Erdbewegungen und der Geologie, der Tier- und Pflanzenwelt gilt eine Aufmerksamkeit, die ungewöhnlich ist, sich aber keineswegs im populären Begriff des ›Nature writing‹ erschöpft.
Dabei gibt es für die Autorin, was den Schauplatz betrifft, kein unwürdiges Material; es zieht sie aus der Stadt heraus und an die Peripherie. Esther Kinsky mag die ungarische Provinz wählen (in dem Roman Banatsko, 2011), einen Randbezirk im Londoner Osten (Am Fluss, 2014) oder auch das Friaul, ihren vorläufig letzten Wohnort (in den Romanen Hain, 2018, und Rombo, 2022) – immer wird klar, dass die einzig beschreibenswerte Landschaft jene ist, in der die Autorin sich gerade befindet. Fern jeder Öko-Verträumtheit, ohne Klage oder Kritik, stellen Kinskys Romane und Gedichte den Menschen in ein Verhältnis zu den Ruinen, die er hervorgebracht hat, und zur Restnatur, die ihn noch immer umgibt. Kinskys magische Kunst der Benennung, die sie laut ihrem bemerkenswerten Übersetzungsbrevier Fremdsprechen (2013) im prüfenden Umgang mit anderen Sprachen entwickelt hat, ist in der deutschen Gegenwartsliteratur ohne Parallele. Man darf darin eine entschlossene Abwehr des Banalen sehen – und eine Wahrnehmungs- und Erinnerungsschule völlig eigener Prägung.«
Die ersten Romane von Esther Kinsky Sommerfrische (2010), Banatsko (2011) und Am Fluss (2014) sind im Verlag Matthes & Seitz erschienen, die letzten Romane Hain (2018) und Rombo (2022) sowie der Gedichtband Schiefern (2020) im Suhrkamp-Verlag. Aktuell besonders hervorhebenswert ist auch ihr Band Karadag Oktober 2013, der zusammen mit Martin Chalmers verfasste ›Aufzeichnungen von der kalten Krim‹ enthält. Das Werk der Autorin wurde bereits mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, darunter der Paul-Celan Preis (2009), der Kranichsteiner Literaturpreis (2015) sowie der Erich-Fried-Preis (2020). Für einen Auszug aus ihrem aktuellen Roman Rombo wurde ihr der W.-G.-Sebald-Literaturpreis (2020) zuerkannt.
Der Kleist-Preis ist mit 20.000 Euro dotiert. Der Kleist-Preis wird finanziert durch die Holtzbrinck Publishing Group, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie durch die Ministerien für Wissenschaft, Forschung und Kultur der Länder Berlin und Brandenburg. Der Kleist-Preis hat eine lange Tradition. In den 10er und 20er des letzten Jahrhunderts wurden u.a. Hans Henny Jahnn, Bertolt Brecht, Robert Musil oder Anna Seghers ausgezeichnet. Nach der Wiederbegründung des Preises 1985 hießen die Preisträger u.a. Alexander Kluge, Thomas Brasch, Heiner Müller, Ernst Jandl, Monika Maron, Herta Müller, Hans Joachim Schädlich, Daniel Kehlmann, Wilhelm Genazino, Arnold Stadler, Sibylle Lewitscharoff, Navid Kermani, Marcel Beyer, Monika Rinck, Yoko Tawada, Ralf Rothmann, Christoph Ransmayr, Ilma Rakusa und zuletzt Clemens J. Setz.
Die Jury des Kleist-Preises, die die Vertrauensperson auswählt und ihr potentielle Preisträgerinnen und Preisträger vorschlägt, besteht aus sieben Mitgliedern: Andrea Bartl (Universität Bamberg), Günter Blamberger (Universität zu Köln), Florian Borchmeyer (Dramaturg Schaubühne Berlin), Gabriele Brandstetter (Freie Universität Berlin), Florian Hoellerer (Literarisches Colloquium Berlin), Michael Maar (freier Autor Berlin) und Sigrid Weigel (Zentrum für Literaturforschung Berlin).