Kleist-Preis 2020 (verliehen 2021)

Preisrede: Clemens J. Setz – SELBSTLOSIGKEIT

Ein Mal in meinem Leben wurde ich Augenzeuge eines Mysteriums, dessen Erforschung mir gewiss nie ganz gelingen wird, aber das meinem Leben, wie ich hoffe, so etwas wie eine dauerhafte Forschungsrichtung verleihen könnte. Die Szene spielt auf einem Bahnsteig, in Deutschland. Ich glaube, es war in Braunschweig, und das Jahr war 2015. Eine Frau wartete mit ihren zwei kleinen Kindern auf den Zug. Da fiel einem Teenager, nach einer ungeschickten Drehbewegung, der obere Teil seines offenbar nur aus lose miteinander verschnürten Teilen bestehenden Rucksacks auf die Gleise hinunter. In derselben Sekunde ließ die Frau die Hände ihrer beiden kleinen Kinder los und lief die paar Schritte in Richtung Bahnsteig. Der junge Mann blickte nur ratlos zu den Gleisen und befand sich allem Anschein nach überhaupt nicht in Gefahr, etwa kopflos hinterher zu springen oder sonst irgendeine leichtsinnige Aktion zu wagen. Die Frau fasste ihn trotzdem bei den Schultern und zog ihn sanft vom Abgrund fort. So weit, so gut. Eine beherzte und gute Geste. Aber nun brachte sich die Frau, während ihre beiden ankerlos gewordenen Kinder ihr mit tapsigen Schritten nachwackelten (was mich wiederum dazu brachte, ihnen nachzugehen), in eine seitliche, wie im Damensattel sitzende Haltung am Rande des Bahnsteigs und angelte mit einem weit ausgestreckten Bein nach dem gefallenen Gegenstand auf dem Gleisbett. Es gelang ihr, das Ding zu bergen und dem Jüngling zurückzugeben. Der bedankte sich. Die Frau empfing ihre Kinder, die bis zu ihr an den Rand des Bahnsteigs gegangen waren.

Diese Szene beschäftigte mich so sehr, dass ich während der anschließenden Fahrt im Zug von dem durch sie vermittelten Gefühl der Beklemmung ganz enge Bronchien bekam. Bis heute nage ich gedanklich oft an diesem Rätsel herum, wie es möglich sein konnte, dass eine Mutter die Hände ihrer beiden auf einem Bahnsteig stehenden Kinder losließ und wie ferngesteuert von ihnen fortging, nur um einen vollkommen irrelevanten Gegenstand, der überdies noch einem Fremden gehörte, vorm Überfahrenwerden zu retten.

Nun hätte ich es mir freilich leicht machen und über dieses Thema nie irgendetwas schreiben können. Es hätte durchaus ein Mysterium im Hintergrund bleiben dürfen, ungelöst bis zum Ende, eben wie die meisten Mysterien. Aber in der Beschäftigung mit dem Werk Heinrich von Kleists, das ich in der Vorbereitung auf den Tag der Preisverleihung unternahm, fiel mir auf, dass von allen Werken deutscher Sprache vor allem seines das geeignete, ja vielleicht das einzige zu sein scheint, das sich, wenn auch in einer eher subkutanen, aber dafür doch erstaunlich dauerhaften und stellenweise recht besessenen Weise mit eben diesem Rätsel, oder mit dieser Art von Rätsel auseinandergesetzt hat, und so kann ich es mir erlauben, die Spielarten dieser menschlichen Ungeheuerlichkeit sozusagen in Kleists Schirmherrschaft durchzukosten und aufzuzählen.

Wir begegnen dem Geheimnis bei Kleist an vielen Stellen. Zum Beispiel in seiner von mir besonders geschätzten Erzählung Der Findling. Der wohlhabende Kaufmann Piachi hat sich mit seinem elfjährigen Sohn auf Reisen begeben. Er hält sich in Ragusa auf, wo eine “pestähnliche Krankheit” ausbricht. Um sich und den Sohn zu retten, reist Piachi schnell ab. Aber da fällt ihm, gerade beim Verlassen der Stadt, ein fremder Knabe auf, der

nach Art der Flehenden, die Hände zu ihm ausstreckte und in großer Gemütsbewegung zu sein schien. Piachi ließ halten; und auf die Frage: was er wolle? antwortete der Knabe in seiner Unschuld: er sei angesteckt; die Häscher verfolgten ihn, um ihn ins Krankenhaus zu bringen, wo sein Vater und seine Mutter schon gestorben wären; er bitte um aller Heiligen willen, ihn mitzunehmen, und nicht in der Stadt umkommen zu lassen. Dabei faßte er des Alten Hand, drückte und küßte sie und weinte darauf nieder. Piachi wollte in der ersten Regung des Entsetzens, den Jungen weit von sich schleudern; doch da dieser, in ebendiesem Augenblick, seine Farbe veränderte und ohnmächtig auf den Boden niedersank, so regte sich des guten Alten Mitleid: er stieg mit seinem Sohn aus, legte den Jungen in den Wagen, und fuhr mit ihm fort, obschon er auf der Welt nicht wußte, was er mit demselben anfangen sollte.

Hier haben wir dasselbe Mysterium. Die vorrangige Aufgabe eines Vaters ist es, sein Kind und sich selbst zu schützen. Ein fremder Knabe, der alle Anzeichen des übertragbaren Todes an sich hat, ja dieses Verhängnis sogar wörtlich ankündigt, sollte, so könnte man denken, in der Fürsorgehierarchie viel weiter unten stehen. Und dennoch reagiert Piachi anders: Er nimmt den Knaben mit, lässt ihn sogar von seinem Sohn berühren. Und natürlich geht die Geschichte nicht gut für den Sohn aus. Er stirbt - und das Findelkind bleibt in Piachis Haushalt, wo es ihm auf eine eigenartig ungewollte, ja fast mürrische Art tief an die Seele wächst. Elektrisierend finde ich, bei jedem Wiederlesen, diese in einem einzigen hastigen Kleistsatz zusammenfindenden Empfindungen von Ansteckungsekel und Mitleid. Sie scheinen einander irgendwie paradox zu ermöglichen oder bedingen. In dieser eigenartigen Urszene überschreibt der visuelle Eindruck einer Ohnmacht selbst die den Ansteckungsekel, führt also zu einem, wie Elias Canetti es nannte, Umsprung der Berührungsfurcht.

Es scheint, als wäre der Impuls zu helfen, freundlich zu handeln, seine Mitmenschen als solche zu ehren und anzuerkennen, oft nur aus einem Kurzschluss-Zustand des Bewusstseins, also einer möglicherweise vollkommen irrationalen und daher eigentlich für niemanden empfehlenswerten Krisedes Verstandes heraus erklärbar. Proust beschreibt eine ganz ähnliche Beobachtung in Unterwegs zu Swann:“Wenn ich später im Laufe meines Lebens, in Klöstern etwa, Gelegenheit hatte, wirklich heiligen Personifizierungen der tätigen Nächstenliebe zu begegnen, so hatten diese im allgemeinen das muntere, positive, gleichgültige und etwas schroffe Gebaren des eiligen Chirurgen an sich und ein Gesicht, auf dem kein Mitgefühl, kein Gerührtsein gegenüber dem menschlichen Leiden zu lesen stand, freilich auch keine Furcht vor der Berührung mit ihm, kurz, sie trugen die sanftmutlosen Züge, das sympathielos erhabene Antlitz der wahren Güte zur Schau.” Eigenartig. Diese Zeilen klingen augenblicklich wahr. Aber warum eigentlich? Ähnlich verwirrend erscheint mir jener ebenso augenblicklich wahr erscheinende Moment in einem späten Roman von Céline, wo dieser, mit seiner Frau und seinem Kater auf der Flucht, in Hamburg in einem Zug auf eine Ausreisemöglichkeit wartet. Er trifft da auf eine Gruppe behinderter Kinder, deren Betreuerin bereits Blut hustet und wohl nicht mehr lange leben wird. Sie alle sind ausgehungert im Zug, Hamburg ringsum ist zerbombt, und Essen existiert nicht mehr. Die Betreuerin kann nicht mehr weiter. Jetzt ist es an Céline, sich um die behinderten Kinder zu kümmern, ihm, der, soweit ich das beurteilen kann, ein äußerst harter und intoleranter Mensch gewesen sein muss. Was fällt so einem wie ihm in diesem Augenblick ein? Er bittet seine Frau, ihre Tasche zu öffnen und den Kindern den Kater zu zeigen. Vielleicht heitert der sie ein wenig auf. Ist das eine kleine Kerzenflamme von Menschlichkeit? Oder zen-artig gleichgültiger Zynismus? Es erinnert mich jedenfalls an eine weitere unvergessliche Szene roboterhafter, selbstschädigender Mildtätigkeit, diesmal in Wassili Grossmans Roman Leben und Schicksal, wo eine alte Frau, die eigentlich fest entschlossen ist, einen Stein auf einen deutschen Gefangenen zu werfen, zu ihrer eigenen Überraschung plötzlich in ihre Tasche greift und ihm ein Stück Brot reicht, das ihr selbst später bitter abgehen wird. Helfen, Freundlichsein taucht an diesen sonderbaren Stellen der Weltliteratur immer auf als Auflehnung gegen ein absurdes Universum, als das, was in diesem Augenblick gegen die Gebote der Vernunft verstößt, als Vorprogramm zur Selbstzerstörung.  Auf ganz kompakte Form bringt es die Gedichtzeile von René Char: “Wer den Menschen wirklich Hilfe leisten will, sollte sie nicht lieben.” Wie eigenartig das ist. Stimmt es denn? Schlagen wir wieder bei Kleist nach. Er scheint von diesem höchst paradoxen Naturgesetz, das heißt, von der auffallenden Seelenlosigkeit und bisweilen sogar unmenschlichen Kälte der Hilfsbereiten am meisten verstanden zu haben.

Wenn also etwas wegfallen muss, etwa die Sympathie oder die Liebe oder die Zurechnungsfähigkeit oder die elterliche Fürsorge, damit das Heilige im menschlichen Handeln hervortreten kann, was sagt das dann über die Menschen? Kleists Amphitryon bietet eine ausführliche Behandlung dieses Problems. Der Gott Jupiter ersetzt als Doppelgänger einen Menschen und dies verursacht eine Weile allerlei Verwechslungskomik- und tragik, allerdings wird es gegen Ende sehr unheimlich, als Jupiter den unglücklich von seinem Platz verdrängten Amphitryon fragt, ob er endlich einzusehen bereit sei, dass er, Jupiter, der wahre Amphitryon sei. Seine Frau Alkmene ist längst davon überzeugt, dass der verkleidete Gott ihr Ehemann sein müsse, und der ursprüngliche Amphitryon ein Betrüger. Als Leser erlebt man beinahe körperliche Qualen an dieser Stelle, weil diese groteske Aberkennung eines ganzen Menschenlebens mit so viel Schwung und Eleganz geschieht; gerade mal innerhalb von eineinhalb Druckseiten. Und Amphitryon stimmt dem Urteil sogar noch zu: Jawohl, er gebe zu, dass der andere zweifellos der echte sein müsse, denn seine Frau sage es so. Heißt das, er liebt sie so sehr, dass er ihrem gegen ihn selbst gerichteten Wort mehr Gewicht verleiht als seiner gesamten bisherigen Lebenserfahrung? Schwer zu sagen. Jedenfalls ist es ein höchst seltsamer Moment. Wie ein Riss in der Matrix. Als wäre er irgendwie froh darüber, das eigene Leben als bloß von höheren Dimensionen abgestrahltes Hologramm zu akzeptieren. Amphitryon wirkt beinahe glücklich, die unechtere Version einer schon immer bestehenden besseren Existenz sein zu dürfen, sozusagen die entkernte Simulation, die Vorübung für das Eigentliche.

Oder in Das Erdbeben in Chili, in der eine junge Frau namens Josephe für das Verbrechen, innerhalb der Klostermauern von ihrem Freund schwanger geworden zu sein, zum grausamen Tod durch Enthauptung verurteilt, aber dann von dem titelgebenden Erdbeben sozusagen befreit wird. Gerade hatte sich das Volk noch gefreut, sie gleich hängen zu sehen, alle Fensterplätze waren vermietet, alles bereit für den öffentlichen Mord, aber nun ist plötzlich die Stadt zerstört, Familien retten sich ins Umland. Josephe findet im Chaos ihr Kind, flieht, und kommt sogar wieder mit ihrem Geliebten Jeronimo zusammen. Da wird sie angesprochen. Ein Fremder fragt sie, ob sie, die junge Mutter, diesem Kind hier bitte die Brust geben könnte. Sie tut es natürlich, ohne lang nachzudenken. Ringsum sitzen oder liegen all jene, die Stunden zuvor noch ihr unter Gejohle den Tod wünschten. Manche schauen sogar noch, wie Kleist so wunderbar bemerkt, “mit träumerischem Blicke” in ihre Richtung. Dennoch flieht Josephe nicht vor den Bestien. Das heißt, ganz wohl ist ihr natürlich nicht. Aber allen scheint, angesichts des gemeinsam erlebten Weltendes, die archaische Mordlust vergangen zu sein. Was sich freilich, im Laufe der Erzählung, als tragischer Irrtum erweist. Sie gibt dem Kind dennoch die Brust, auch auf die Gefahr hin - nein, nicht einmal auf die Gefahr hin, denn in dem Augenblick gibt es gar keine Gefahr, nur ein ungutes Gefühl, ein Sich-Umblicken, aber das Neugeborene vor ihr ist wichtiger und übertönt ihre Umsicht, ihre Vernunft, ihre bisherige Geschichte.

Auch der automatenhaft handelnde Prinz von Homburg kommt einem in den Sinn. Im Verlauf dieses singulär seltsamen Stücks wird so an ihm fast so etwas wie eine Erziehung nach dem japanischen Samurai-Codex Hagakure vorgenommen, an deren Ende statt einem menschlichen Bewusstsein ein roboterhafter Zustand der Befehlsautomatie steht. Schon in der ersten Szene aber ist der Prinz nicht vollständig Mensch, sondern scheint ins Uncanny Valley gerückt. Freunde studieren ihn gemeinsam, wie etwas in einem Schaugehege:

Als ein Nachtwandler, schau, auf jener Bank,
Wohin, im Schlaf, wie du nie glauben wolltest,
Der Mondschein ihn gelockt, beschäftiget,
Sich träumend, seiner eignen Nachwelt gleich,
Den prächt'gen Kranz des Ruhmes einzuwinden.

Sie nehmen ihn wie eine animierte GIF-Datei wahr, eine deskriptive Endlosschleife seiner selbst, eine Hülle ohne Wesenskern. “Ruf ihn bei Namen auf, so fällt er nieder”, lautet Hohenzollerns Vorschlag. Der Prinz scheint also bereits sehr früh in seiner Geschichte eine Dimension des Menschlichen verloren zu haben. “Seiner Nachwelt gleich” - auch das ein tief hallender Satz, und davor dieses interessante “sich träumend”. Es ist einer der wirksamsten Einstiege in eine Geschichte, die mir bekannt sind. Die Hauptfigur wird in einem vollkommen entindividualisierten Augenblick angetroffen und von außen bestaunt, kommentiert, eingeordnet. Sie ist, gleich von Anbeginn, nicht sie selbst, sondern eine Art Simulation. Der Prinz von Homburg, der sich selbst im Schlafwandel einen Lorbeerkranz flicht, ist zudem ein unerhört rührendes Bild, ein Scheinwerferblitz in eine Existenz, in der wohl tatsächlich Träume von Ruhm alle bisherigen Gedanken und Entscheidungen begleiten. Zugleich lässt dieser magische Halbsatz “seiner eignen Nachwelt gleich” an jene Formel denken, mit der W. H. Auden in einem berühmten Gedicht das langsame Sterben von William Butler Yeats beschrieb: “The provinces of his body revolted / The squares of his mind were empty / Silence invaded the suburbs / The current of his feeling failed; he became his admirers.” Er wurde seine Verehrer. Genau das passiert, schon zu Lebzeiten, mit einem Menschen, den es allzu weit, allzu heftig in die Gehege des Ruhms treibt. Er betritt, wie gesagt, das Uncanny Valley - und wird seine Verehrer, oder seine Vorbilder.

Am deutlichsten hat sich Kleist mit der Frage des Roboterhaften in seiner Schrift Über das Marionettentheater beschäftigt. Hier trieb ihn die Frage nach der Eleganz um, dem Sitz der Seele, der Handhabung der Glieder und des Schwerpunkts beim Tanz. Wer allzu viel nachdenkt, kann seine Kunst nicht in vollkommener Grazie und Anmut ausüben, so die etwas plumpe Zusammenfassung des Aufsatzes. Merkwürdig finde ich, wie sehr mich die Beschreibung des Marionettenhaften beim Erstlesen ängstigte. Ich war damals neunzehn oder zwanzig und der Schrecken, in den mich die an sich so tröstliche Schrift versetzte, war beinahe zu viel. Sie wurde seither nur von einer Erzählung übertroffen, einem Geschwistertext zu Kleists Marionettentheater, nämlich der Geschichte von Mr Thompson aus Oliver Sacks’ berühmten Fallgeschichtenbuch Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Mr Thompson leidet an einer extremen Form des Korsakow-Syndroms und sein Kurzzeitgedächtnis dauert nicht länger als einige Sekunden. Er behält nichts von dem, was ihm widerfährt oder gesagt wird. Er weiß nicht, wo er ist, wer die anderen Menschen rund um ihn sind.  So erfindet er, in einer sogar den Erzähler Sacks nach einer Weile ermüdenden Art von Dauergewitzel und gehetzter Fabuliersucht, wer die vor ihn tretenden Menschen sein könnten. Er rät immer von neuem, kombiniert und deutet visuelle Erkennungszeichen (wie zB ein Stethoskop) und gleitet doch letztendlich immer ab. Wieder und wieder misslingt ihm die allmähliche Verfertigung der Persönlichkeit beim Sprechen.

Sacks schreibt, Mr Thompson komme ihm “de-souled” vor. Einen solchen frevelhaften Satz hatte ich überhaupt noch nie gelesen. Ich war zutiefst empört. Figuren existierten doch überhaupt nur deshalb, damit man ihnen, zumindest vorübergehend, eine Seele verlieh - oder meinetwegen unterstellte oder andichtete oder nachwarf - und hier warf jemand seiner Figur vor, sie habe keine Seele mehr. Steckte hier wirklich ein Mensch in absolut unrettbarer, keiner Religion und keiner Metaphysik mehr zugänglichen Hölle fest? Eine erzählerische Grenze des Taktgefühls schien überschritten. Und, was das ganze noch schlimmer machte: die Grenze war innerhalb der Erzählung mit spürbarer Liebe, mit Fürsorge, mit Mitleid überschritten worden. Mr Thompson wird am Ende der Betrachtung bei einer Begegnung mit der Natur gezeigt, im Garten, umgeben von lauter Dingen, auf die man nicht sprachlich einwirken muss, um in ihrer Gegenwart zu bestehen, und da sei er, wie Sacks uns versichert, für einen Augenblick still, inmitten all der “quiet non-human self-sufficiency and completeness” der Pflanzen, und existiere mit einem “restored sense of being in the world, being real”. Ungeheuerliche Zeilen.

Vielleicht liegt tatsächlich etwas Frevelhaftes in der liebevollen Faszination für die roboterhaft Gewordenen, für ihren Wegfall der Komplexität. Mir fällt da etwa Anton Kuhs Beschreibung der Praterausrufer ein: “Seltsame Wesen, von der Normal-Akustik des Lebens ausgesperrt. (...) Welche Fähigkeit des Weghorchens muß ihr Gehirn erlangt haben!” Oder auch Elias Canettis Erzählung über die Blinden von Marrakesch, die er “die Heiligen der Wiederholung” nennt, weil sie alle dasselbe Wort tausende Male am Tag wiederholen, jeder in seiner eigenen lautlichen Variante. Aber anders als Kuh sieht Canetti in dieser nervenzersetzenden Wiederholung auch etwas Dunkel-Verlockendes. “Ich habe mich”, schreibt er, “seit ich aus Marokko zurück bin, mit geschlossenen Augen und untergeschlagenen Beinen in die Ecke meines Zimmers gesetzt und versucht, eine halbe Stunde lang in der richtigen Geschwindigkeit und mit der richtigen Kraft “Alláh! Alláh! Alláh” zu sagen. Ich versuchte mir vorzustellen, dass ich das einen ganzen Tag und einen guten Teil der Nacht so weiter sage; dass ich nach kurzem Schlaf wieder damit beginne; dass ich es Tage und Wochen, Monate und Jahre fortsetze; dass ich alt und älter werde und so lebe, und zäh an diesem Leben festhalte; (...) Ich habe begriffen, welche Verführung in diesem Leben liegt, das alles auf die einfachste Art von Wiederholung reduziert.” Ich erinnere mich an einen ähnlich fragwürdigen Selbstversuch, den ich als Kind unternahm. In unserem Bezirk gab es einen Bettler, der den ganzen Tag “Bittebittebittebitte” wiederholte, stundenlang und scheinbar ohne je Luft holen zu müssen. In der Schule wussten alle von ihm, machten Witze über ihn und imitierten ihn. Einmal machte ich zuhause den Versuch, wie lange ich es aushielt, seinen simplen Bittruf zu wiederholen. Ich kam nicht sehr weit. Vermutlich ist auch das eine Urerfahrung einer gehobeneren Gesellschaftsschicht: die Mantren der unteren Klassen am eigenen Leib ausprobieren und irgendwann kopfschüttelnd aufgeben oder sich, so wie Canetti es macht, in eine bestimmte Art von Erkenntnis retten. Der Kern des Mysteriums wird durch solche lächerlichen “Übungen” nicht berührt.

Am weitesten in das Mysterium der Selbstlosigkeit, des hilfreichen Selbstverlusts, dürfte sich ein Mann namens George Price hineingewagt haben. Er könnte direkt einer Novelle Kleists entsprungen sein. Price war Programmierer bei IBM, aber erlernte im Alleinstudium viele andere Disziplinen, unter anderem Evolutionsgenetik und Statistik. Er entwickelte eine Gleichung, die das gesamte Feld veränderte, die sog. Price-Gleichung. Sie beschreibt die Änderung der Allelfrequenz einer Population. Aus ihr ging - zumindest nach Ansicht ihres Entdeckers - hervor, dass echter Altruismus nicht existierte. Altruistisches, d.h. roboterhaft ferngelenktes Hilfsverhalten, das der eigenen Tribe oder dem eigenen Organismus scheinbar schadet, “hilft”, vereinfacht gesprochen, doch am Ende der eigenen Art. Price war über diese Einsicht vollkommen verzweifelt. Die Gleichung stimmte, aber konnte nicht wahr sein. Er weigerte sich, seine eigene Entdeckung anzunehmen. Und er lehnte sich sogar aktiv gegen sie auf, durch eine Art von absurdem, anarchischem Aktivismus. Denn wenn sich der Altruismus als ein evolutionär hilfreiches Ding erweist, wo man sich selbst opfert sozusagen, aber immer für - immer für - etwas, dann kann es “wahren Altruismus” nirgends im Universum geben, oder es kann ihn eben nur geben als sinnbefreites Gefuchtel im luftleeren Raum. Und genau zu dem wurde sein Leben. Er gab sein ganzes Geld an Obdachlose. Er ließ sie in seinem Haus schlafen, bis er selbst aus dem Haus verdrängt wurde. Am Ende, als er nichts mehr besaß und kein Geld mehr hergeben konnte, brachte er sich durch einen mit einer Nagelschere zugefügten Schnitt durch die Kehle um.

Price hatte versucht, buchstäblich zu einem Hilfs-Automaten zu werden, der nicht mehr an “vernünftige” bzw notwendige Dinge wie Selbsterhalt dachte. Nur so würde er sozusagen gegen Gott gewinnen, der ihm diese ungeheuerliche Gleichung geschenkt hatte. Kleist, der Kenner der Automatenmenschen, hätte ihm ein würdiges Denkmal schreiben können. Vielleicht hätte er an seinem Beispiel gezeigt, dass das Automatenhafte immer die Signatur der Auflehnung gegen die Verhältnisse besitzt, gegen das Universum, das Schicksal. Vielleicht gehören sogar die in ruhiger, sauberer Planmäßigkeit verrichteten Vorbereitungen jener beiden zum Sterben entschlossenen Leute am Wannsee dazu, im November 1811. Aber Selbstmorde gehören bekanntlich nicht in die Sphäre der Hermeneutik. Am Leben von Kleist, an seinem Werk, können wir, auch wenn sein Tod dagegen Einspruch zu erheben scheint, lernen, dass wir, wenn etwas fehlt, zum Beispiel eine Seele, oder auch bloß eine Erklärung, eine Richtung, eine Alternative, ein “wahres Leben”, oder ein Ausweg, zu erzählen beginnen müssen. Erzählen als vorübergehende Rettung wie auch als unabschüttelbares Teufelspakt.

Ich danke der Gesellschaft, die sich seit vielen Jahren so fürsorglich um Kleists Werk und dessen Verbleib in der Welt kümmert, die, mit anderen Worten, darauf achtet, dass es bewohnt und bespielt und beseelt bleibt, für die Ehre dieser Einladung.