Kleist-Preis 2020 (verliehen 2021)

Laudatio: Daniela Strigl – Glückliches Blei, tröstliches Ei. Ein Setzkasten für Clemens Setz

„– Und da hinten schließlich das Spätwerk, sagte der junge Mann und deutete auf ein langes Regal voll dunkler, teilweise zerfallener Bücher. Der ganze späte Setz. Der Warteschlangen-ZyklusEnkel und Asteroiden. Alles aus seiner Nach-Meer-Periode.“ So beginnt Clemens Setz’ Erzählung „Das Herzstück der Sammlung“; dieses ist der greise Dichter selbst, der hinter verschlossenen Türen im Gitterbett gehalten wird und sich an einem meeresstrandähnlichen Zimmerbrunnen ergötzt – offenbar markiert die Entdeckung des Meeres eine Zäsur in seinem Œuvre. Als Clemens Jot Setz – oder wie man in Österreich sagt: Clemens J. Setz – die Erzählung schreibt, ist er 28 und hat naturgemäß nur ein Frühwerk vorzuweisen, seinen Debutroman „Söhne und Planeten“ etwa, dessen Titel in „Enkel und Asteroiden“ nachhallt. Der Hang zur Größe ist jedoch ebenso unverkennbar wie die Gabe der Selbstironie. Hier hat einer von Anfang an das Lebenswerk im Blick und mißtraut zugleich dem Ruhm. Wie der Held seines Romans „Die Frequenzen“, der über die Bücher der Schriftsteller meint: „Solange sie noch gedruckt werden, glaubt sich der Verfasser unsterblich. Wenn er tot ist, weiß er es besser.“ „Was liegt am Ruhm, da man den Nachruhm nicht erleben kann?“ fragte Marie von Ebner-Eschenbach. Kleist sah das bekanntlich anders. „Ich will hinein und muß hinein, u. sollts auch in der Quere sein“, schrieb er – quer – in das Poesiealbum seiner Schwester.

Der Antiqua-Setzkasten hat 125 Fächer, davon elf sogenannte ganze, für die am häufigsten verwendeten Bleilettern. Diese elf Fächer möchte ich heute bestücken, nicht mit Buchstaben, sondern mit elf für die Literatur von Clemens Setz charakteristischen Miniaturen, mit den übrigen Fächern könnten Sie, meine Damen und Herren, bei der Setz-Lektüre nach Ihrem Gutdünken verfahren.

Beginnen wir mit dem Herzstück der Sammlung:

1 Der Dichter

„Setz, Clemens Johann (1982-?): Österreichischer Schriftsteller. Verfasser obskurer Novellen und Romane, die häufig in seiner Geburtsstadt Graz angesiedelt sind“, steht auf dem Vorsatzblatt des Romans „Die Frequenzen“, angeblich ein Eintrag im „Konversationslexikon der Jenseitsmythen“. Der Dichter, vielmehr sein mehr oder weniger stark verfremdetes Konterfei, begegnet uns, mit und ohne Bart, mit und ohne Sakko, meist mit Brille, des öfteren in seinem Werk, am prominentesten in Gestalt des psychisch labilen Mathematiklehrers Setz in dem meisterlich komponierten Roman „Indigo“. Jener ist, wie so viele Protagonisten, Patient. Am Anfang der Geschichte steht das Faksimile eines Befunds, eines Patientenblatts, ausgestellt vom Landeskrankenhaus Graz auf Setz, Clemens Johann, wie der Autor geboren am 15.11.1982. Der Spitalsaufenthalt ist die Folge eines Sturzes, der wiederum die Folge des ungesunden Einflusses eines „Indigo-Kindes“ ist. Weil diese Kinder durch eine Art Strahlung eine Gefahr für ihre Umwelt darstellen, werden sie abgesondert oder, wie es die Gesundheitsbehörde politisch korrekt formuliert, „reloziert“. Mit dem mysteriösen Indigo-Syndrom hat der Autor das passende Bild für den menschlichen Wunsch nach Nähe und dessen unerquickliche Folgen gefunden. Sein Namensvetter im Roman kann ein Lied davon singen. Der Dichter hingegen ist ein Wesen mit Nimbus, dem man nicht trauen sollte. In der Erzählung „Die Vase“ inszeniert ein an den jungen Handke gemahnender Schriftsteller die Totenwacht an der Bahre seiner Mutter im Beerdigungsinstitut als verblüffend folgenloses Happening. Der junge Setz war, nach eigener Erinnerung, vor allem ein Möchtegerndichter, einer, der täglich um halb fünf aufsteht und sich im Sakko an den Schreibtisch setzt, der im Innsbrucker Traklpark ein halbes Sonett dichtet, ehe er dessen Lächerlichkeit erkennt. Anders als der Clemens Setz im Roman hängt der „echte“ Setz sein Lehramtsstudium der Mathematik an den Nagel, die Mathematik bleibt dennoch im Blick. Kleist: „Ich kann ein Differentiale finden und einen Vers machen; sind das nicht die beiden Enden der menschlichen Fähigkeit?“

2 Das Ei

„Das Frühstücksei in dem roten Holzbecher sah aus, als würde es intensiv über etwas nachdenken. Ein stiller runder Gegenstand.“ Die Menschen in Setz’ Büchern brauchen die stillen runden Gegenstände zum Ausgleich für die Zudringlichkeit der Welt, als Mittel gegen die abgründig grundlose Angst. „Der Trost runder Dinge“ heißt der zweite Erzählband, und Herr Zweigl, der so gerne seine vernichtende Erfahrung mit seinen Söhnen teilen würde, weiß ihn zu schätzen, den „Anblick von Auberginen oder Tomaten, überhaupt runde Sachen, und überhaupt Obst, die meisten Sorten“. Eine Protagonistin mag den frischen Schnee, der scheinbar über Nacht nachwächst, weil die Dinge in der winterlichen Stadt „um vieles weicher und runder“ wirken. In dem ausschweifenden Therapieroman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ sind es Ballone, „diese herrlichen sphärischen Gebilde, bei deren Anblick man innerlich runder und vollkommener wurde“.

3 Der Allerwerteste

Ein doppelrundes Objekt, das in diesem Setzkasten nicht fehlen darf, verdankt sich Setz’ Drang zur Drastik, der sich auch durch andere Körperteile unter der Gürtellinie darstellen ließe, was freilich die hier gebotene Dezenz verbietet. Man kann sich die Setz’sche Version des Podex ausmalen wie in einer Szene von Hieronymus Bosch, bizarr losgelöst von seinem Besitzer, wie im Triptychon „Der Garten der Lüste“ mit einer Notenschrift bedeckt oder mit einem herausragenden Blumenstrauß geziert. Nähe und Gewalt sind bei Setz Geschwister, davon zeugen Küsse, Bisse und Schlimmeres. In der Erzählung „Milchglas“ sucht ein alles andere als harmloser schlafgestörter Knabe Trost und Beruhigung durch Dinge, die Alpträume gewöhnlich erst erzeugen, die Austreibung des Teufels durch den Beelzebub: die Kreuzigung des Isenheimer Altars zum Beispiel oder „die musikalische Hölle von Bosch“. Der Allerwerteste wird in mehreren Texten von Setz bei der Ausübung sexueller Praktiken entblößt, aber auch, ad usum delphini, in einem Streich des jungen Till Eulenspiegel, dessen Abenteuer Clemens Setz nacherzählt hat: In „Wie Till bewies, dass er kein schlechter Junge sei“ reitet er mit seinem Vater aus und produziert sich hinter dessen Rücken vor einigen Bauern, er zeigt ihnen „seinen nackten Hintern“ und schüttelt eine versteckte Blindschleiche aus der Hose. Ist Eulenspiegel „die vielleicht freieste Figur der deutschen Literatur“, so ist Clemens Setz ihr vielleicht freiester Dichter: grotesk, grandios verstörend, unbekümmert derb, ja obszön, gerade dort, wo er auch Raum für Zartheit läßt. Seine rasende Klugheit und sein Witz sind, wenn man so will, kleistisch – wie in der „Anekdote aus dem letzten Kriege“, in der ein zu seiner Füsilierung schreitender Tambour die Hosen herunterläßt und sagt, „sie mögten ihn in den .... schießen, damit das F... kein L ... bekäme. Wobei man noch die Shakespearesche Eigenschaft bemerken muß, daß der Tambour mit seinem Witz, aus seiner Sphäre als Trommelschläger nicht herausging.“ Das Fell und das Trommelfell finden ein Echo bei Setz: „Dann – ein Wort wie ein Trommelschlag“.  In den gesammelten Nacherzählungen verworfener jugendlicher Versuche unter dem kryptischen Titel „Glücklich wie Blei im Getreide“ (was ist das? Schrot? Die Flinte im Korn? Bleilettern?) wird eine Gallenblase mit Sand gefüllt, um Glück zu demonstrieren. Da fällt mir Kafkas Briefstelle ein: „Kleist bläst in mich wie in eine alte Schweinsblase“. Das kann Setz auch.

4 Der Bär

Diese Figur könnte auch „Die Katze“ heißen oder „Der Kater“. Deren gibt es nicht wenige in der Prosa von Clemens Setz. „Kleiner Bär“, nennt Natalie in „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ ihren Kater Chat, der ihr vermutlich näher steht als alle menschlichen Lebewesen. Sie registriert den „ewigvergnügten Gesichtsausdruck seiner Spezies“ und bewundert das Kompakte seiner Sitzhaltung, „die Vorderpfoten eingerollt, selbst der Schweif unterhalb des Körpers“. Dodo, die Katze des sensiblen Mathematiklehrers Clemens Setz, liegt „zu einer friedlichen Katzenkugel zusammengerollt“, ein überaus tröstliches rundes Ding. „Als sie merkte, dass ich sie ansah, öffnete sie die Augen und hob den Kopf. Ich zwinkerte ihr zu. Sie zwinkerte höflich zurück.“ Höflichkeit ist auch die Grundtugend im menschlichen Umgang mit Katzen, „was war wohl höflicher?“, denkt sich ein Katzensitter an anderer Stelle, „wegsehen oder den Blick erwidern?“ Und Herr  Magister Setz empfindet das irrtümliche Auf-den-Schwanz-treten als Menetekel seines eigenen Grausamkeitspotentials, das er denn auch ausschöpfen wird – um einen Tierquäler zu bestrafen. „Die Unmöglichkeit, sich bei einem Tier zu entschuldigen.“ Weil das Tier die Unschuld schlechthin verkörpert? Natalie, die betreuungsbedürftige Behindertenbetreuerin, die sich, wiederum zum Trost, eine unsichtbare Maus auf ihrer Schulter leistet, entschuldigt sich bei Chat, indem sie ihn „kleiner Bär“ nennt. Kleist-Leser denken an den Bären in „Über das Marionettentheater“ und die Grazie der bewußtlosen Kreatur, der nur die göttliche Grazie gleichkommt. Vom Baum der Erkenntnis zu essen, „um in den Stand der Unschuld zurückzufallen“, heißt es am Schluß, das sei „das letzte Capitel von der Geschichte der Welt.“ Ein Kleist-Leser ist auch Clemens Setz. Der die Geschmeidigkeit des Tiers bewundernde Katzensitter in „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ betrachtet seine Handgelenke: „Gelenke des Marionettenkünstlers, der er gerne gewesen wäre. Über das Marionettentheater. Letzte Kapitel der Geschichte der Welt.“

5 Das Fahrrad

Unter allen Fortbewegungsmitteln ist das Fahrrad den Setz’schen Figuren das liebste. Vielleicht weil es so ganz und gar normal ist und doch eine Schwäche für alles Deviante hat, für Menschen am Wegesrand und auf Abwegen – Sonderlinge, Einzelgänger, streunende Frauen. Die Integrität der Maschine bildet den inneren Zusammenhalt ihres Besitzers ab. Wenn ein Fahrrad nächtens „von einem Unbekannten in alle Einzelteile zerlegt“ wird und der Besitzer diese in der Früh im Garten „fein säuberlich“ zu einem Quincunx-Muster geordnet vorfindet, entsprechend den fünf Augen des Würfels, darf man dem Mann eine Neigung zur Dissoziation unterstellen. Das Fahrrad des Clemens Setz ist ebenso wenig tot wie der Rest der Materie, es verhält sich zum Beispiel wie ein Haustier, ein „altes Fahrrad, eingekuschelt in seine Hecke“, oder es wächst, erotisch dynamisiert, zum Fabelwesen: „Man stelle sich vor, eine Frau, von der Hüfte abwärts verschmolzen mit einem Fahrrad. Eine Velozentaurin.“ Oder das Fahrzeug verwandelt sich in eine Beute des Menschen, wenn Walter in „Die Frequenzen“ mit dem Rad an einer Kreuzung balanciert: „Seine Füße kauten auf den Pedalen herum.“ Das sind, wie immer bei Setz, keine gesuchten Metaphern, sondern geschaute Bilder einer belebten Objektwelt.

6 Die Waage

Die Waage steht plötzlich im Hof eines Mietshauses, altertümlich, mit einem „Uhrengesicht“, so groß wie ein Kind und dennoch irgendwie monströs. Für den Helden, der für Frau und Kind und Nachbarschaft wenig zählt, ist sie Bedrohung, Verlockung und Obsession. Wer die Waage aufgestellt hat, ist nicht klar, aber jetzt sollen alle gewogen, vermessen, verbucht werden. In Zeiten flächendeckender Registrierung und Kontrolle liest man die Geschichte, für die Clemens Setz in Klagenfurt seinen ersten Preis bekommen hat, noch einmal mit anderen Augen. Am menschlichen Antlitz des Meßinstruments ist abzulesen, wie ein Schwankender endgültig aus dem Gleichgewicht gerät. Die Waage ist eines jener merkwürdigen Mischwesen zwischen Kind und Apparat, Ding und Mensch, Tier und Ding, die es dem Autor angetan haben, als Abgesandte einer anderen Wirklichkeit jenseits der Gesetze der Physik, als Stellvertreter des Unbegreiflichen. Zum Beispiel das „kleine Ungeheuer“ – was ist ein kleines Ungeheuer? – das „vorgeht“ und dem Uhrmacher, der es „neu eingestellt“ und erschreckt hat, mit der winzigen Klauenfaust droht. Denn das Unbegreifliche hängt von der Blickrichtung ab.

7 Die Elster

Von seinem „Elsterntum“ spricht der Autor in seiner Danksagung für „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“. In der Tat schmückt Setz sich üppig mit fremden Federn und hat vor allem die postmoderne Praxis der Mottowahl zur Kunst erhoben. Dabei hat er keine Scheu davor, bisweilen seine eigenen Figuren zu zitieren, etwa Dr. Rudolph, den Schulleiter der Helianau, in „Indigo“ mit dem schönen, für unsere Ohren überzeugend klingenden Satz: „Mitunter gewöhnt man sich gegen alles.“ Weil er als Leser ein Vielfraß oder besser: ein Allesfresser ist, reicht der Bogen von Robert Burtons „Anatomie der Melancholie“ bis  Robert Musil, von Empedokles bis Batman, von Konrad Bayer bis zu einer Studie über das Kommunikationsverhalten von Oktopussen. Diese Elster bedient sich nicht nur andernorts, sie schmuggelt auch Eigenes kuckucksmäßig in fremde Nester: Nicht selten finden sich vorgetäuschte Plünderungen, erfundene Fundstücke wie eine angebliche Kalendergeschichte von Johann Peter Hebel. Clemens Johann Setz treibt Allotria mit seinen Lesern, Interpretinnen und der Philologie. Zuletzt hat er in „Bot. Gespräch ohne Autor“ schamlos sich selbst bestohlen – Recycling nennt das der nachhaltig wirtschaftende Geistesarbeiter. Und schließlich schämt er sich auch nicht für den einen großen Diebstahl des Künstlers beim Leben, wie ihn der „Warnhinweis“ in „Die Frequenzen“ unübertrefflich spitzfindig zusammenfaßt: „Alle realen Personen, die sich in den Figuren dieses Romans wiederfinden, werden durch den Akt der Identifikation zwangsläufig fiktiv und zu einem reinen Produkt meiner Fantasie.“

8 Das Telephon

„Dem tieferen anthropologischen Stellenwert von Telefonen“ widmet sich laut Nachsatzblatt der Roman „Die Frequenzen“, „vor allem der heute allgemein bekannten Tatsache, dass sie nicht nur kleine sprachgelehrte Spielzeuge sind, sondern auch so etwas wie Waffen darstellen, eine Art Degen, dessen Klinge im Lauf der Evolution verkümmert ist (...)“. Das klingt rätselhaft, und doch beinah verharmlosend, verfolgt man die messerscharfen Dialoge, die in dieser Literatur am Telephon geführt werden. Die Kapitulation vor dem Aneinander-vorbei-Sprechen lauert auch hinter dem verständnisvollen Ton, den etwa Elke gegenüber ihrer Schwester Monika anschlägt, die in einem Waggon des Wiener Riesenrades wohnt und eine ehrliche Einsamkeit dem samariterhaften Schwesternbesuch vorzieht. Auch der Protagonist in „Die Waage“ wird nie erfahren, warum seine Frau immer außer Atem ist, wenn er sie zu Hause erreicht. Er weiß nur, daß er ihr auf die Nerven geht. Das Telephon verkündet die Antwortlosigkeit der Welt. Für Alexander in „Die Frequenzen“ ist es in dem Kapitel „Solo für Nokia 6151“ ein Requisit, das es ihm ermöglicht, mit einer Frau zu reden, die gerade bewußtlos ist. Als einer von vielen getarnten Selbstgesprächsführern bewegt er sich durch Graz und denkt an eine Szene bei Camus, an einen Mann, der wild gestikulierend mit jemandem telephoniert, der das nicht sehen kann: „Warum lebt er?“. Für Natalie ist das iPhone unentbehrlich, nicht bloß als Gesprächswaffe, sondern als Nabelschnur zur Welt, es macht sie konsumierbar. Trotz aller digitalen Durchlässigkeit der Figuren erscheinen die Telephonapparate bei Clemens Setz merkwürdig altmodisch, da wird abgehoben, gewählt und aufgelegt. Eine Telephonkabine dient als Disziplinierungsort für unbotmäßige Indigo-Schüler, in der rotkarierten Mappe des Mathematiklehrers findet sich ein „Foto der einsamsten Telefonzelle aller Zeiten“, mitten in der Mojavewüste.

9 Die Weltmaschine

Die Weltmaschine als Miniatur – ohne Zweifel eine handwerkliche Herausforderung. Das Original steht im Schuppen des steirischen Bauern Franz Gsellmann, sein Lebenswerk – 2000 Einzelteile, Glühbirnen, Ventilatoren, Räder, Glocken, Vogelpfeifen etc. etc., auf Knopfdruck in Gang zu setzen. Einmal möchte der eine der beiden hypertrophen Väter in „Die Frequenzen“ mit dem anderen über die Idee der Weltmaschine sprechen, in der alles mit allem mechanisch und zugleich mirakulös verbunden ist. Alexander erscheint sie als „Vision meiner eigenen Zukunft“, und ganz offensichtlich ist sie auch ein Modell dieses Schreibens, in dem Verspieltheit und Stringenz, Rattern und Leuchten, Wucht und Witz einander die Waage halten. Die Kausalität der Motorik verträgt sich auf magische Weise mit der Gleichzeitigkeit des mannigfachen Geschehens. Ähnlich begeistert äußert sich der wunderliche Altenpfleger über Paul Klees „Zwitschermaschine“, die vier Vogelhälse mit einer Handkurbel bewegt und offenbar in fröhlicher Anarchie zwitschern läßt, sinnige Synthese von Mechanik und Natur. Auch die Weltmaschine, die der literarische Feinmechaniker Clemens Setz in seinen Romanen in Bewegung setzt und zum Klingen bringt, ist, was das „Lexikon der Jenseitsmythen“, also der Autor, über „Die Frequenzen“ sagt: „ein einziges, großes Liebesgeständnis an das nichtlineare Wesen der Zeit“.

10 Der Blitzeschleuderer

Die Statuette des blitzeschleudernden Zeus – mit dem Blitzbündel in der Hand – kündet von den Registern des großen Naturtheaters, die Clemens Setz auch zu ziehen versteht. Das gewaltige epilepsieanfallartige Gewitter („Grand Mal“), das sozusagen zwischen Natalie und den Mann tritt, den sie als Schutzgeist gegen einen subtil übergriffigen Klienten engagieren möchte, endet mit weit entfernten Blitzen, denen kein Donner mehr folgt, weshalb sie sich räuspern muß, „weil die Welt sonst aus dem Takt geriet“. Der Erzähler Setz lenkt die Wechselfälle des Geschicks durchaus mit einer gewissen Lust an Willkür und ironischer Fügung, wie sie aus Kleists Anekdote von dem „auf der neuen Promenade erschlagene(n) Arbeitsmann Brietz“ spricht. Der hatte einen Hauptmann Bürger geheißen, sich doch unter einen anderen Baum zu stellen, der, unter dem sie beide standen, sei „wohl zu klein für zwei“: „Der Capitain Bürger, der ein stiller und bescheidener Mann ist, stellte sich wirklich unter einen anderen: worauf der &c. Brietz unmittelbar darauf vom Blitz getroffen und getödtet ward.“ Clemens Setz liefert seine einschlägige Meisteranekdote in Form eines Gedichts (in „Die Vogelstraußtrompete“):

Die Interpretation von Blitzen

Der US Park Ranger Roy C. Sullivan
aus Virginia
wurde siebenmal vom Blitz getroffen
Er verlor einige Zehen
war vorübergehend gelähmt
und sein Kopf stand zweimal in Flammen\

Der letzte Blitz traf ihn 1977
beim Fischen
Er überlebte nur knapp
1983 beging er Selbstmord
über den Verlust einer Frau
in einer dunklen Nacht

11 Die Visitenkarte

In der Erzählung „Die Visitenkarten“ sieht sich eine tüchtige Geschäftsfrau mit einer Art Beulenpest konfrontiert, die zunächst ihre Visitenkarten befällt, dann ihre Geldscheine, ehe sie das Phänomen an der Handtasche einer Passantin entdeckt. Clemens Setz war immer schon der ideale, nämlich kontrolliert nervöse Pandemie-Prophet und -Begleiter: Nicht nur mit dem Indigo-Syndrom, da ist auch das neue Nagetiervirus, von dem in „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ überall berichtet wird, oder Daniel Defoes „Tagebuch des Pestjahres“, das einem Protagonisten in „Söhne und Planeten“ zuverlässig hilft, nach einem beunruhigenden Schrumpfungsprozeß wieder zu wachsen. Daß es just die Visitenkarten sind, an denen sich die ersten Symptome der Zersetzung zeigen, bevor die Seuche den Blutkreislauf des Kapitalismus erfaßt, kommt natürlich nicht von ungefähr. Der Angriff auf Namen und Beruf zielt ins Zentrum der Person, auf ihr Definiertsein in der Gesellschaft. Als der berühmte Schriftsteller in „Die Vase“ seinen Zirkus in der Totenkammer veranstaltet hat, überreicht er dem Bestatter eine hellgrüne Visitkarte – die falsche, wie sich herausstellt. „Heribert Wolf, Lektor. Helian Verlag.“ – „Wolf, sagte der Lehrling. So heißt er nicht, nein.“ Was wollte der Autor uns damit sagen?  In „Die Bienen und das Unsichtbare“, seinem großartigen Essay über den Kosmos der Kunstsprachen, erzählt Setz die Anekdote von dem Mann, der von einem englischen Kapitän das Persische erlernt, in dieser Sprache zum Dichter wird und eines Tages draufkommt, daß das gar nicht Persisch ist, daß diese Sprache nur einen einzigen Sprecher hat. Auch was der alte Setz, das „Herzstück der Sammlung“, in seinem Gitterbett spricht, ist nicht verständlich. Das Werk des Kleistpreisträgers Clemens Johann Setz lehrt uns: Strenggenommen ist die Sprache der Kunst immer eine Kunstsprache, eine Privatsprache, an der wir uns ergötzen, ohne sie verstehen zu müssen.

Ich bin jedenfalls gespannt auf die „Nach-Meer-Periode“.