Kleist-Preis 2018

Günter Blamberger – Überlebenskunst

Liebe Mitglieder und Freunde der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, sehr verehrte Frau Schoeller, lieber Herr Khuon, lieber László Földényi, lieber und heute zu ehrender Christoph Ransmayr,

Dichter wird man schon als Kind, in den Sehnsüchten, an die man sich später erinnert, weil sie niemals eingelöst wurden. Am stärksten könnte die Sehnsucht sein, dass das Leben immer neue Anfänge ermöglicht, wie es der 15. Gesang von Ovids Metamorphosen verspricht: „Entstehen und Werden/ heißt nur, anders als sonst anfangen zu sein, und Vergehen,/ nicht mehr sein wie zuvor [...]“. Darauf hoffte auch Kleist nach seiner Abreise aus Frankfurt an der Oder im Spätsommer 1800. Er verging sich, um anders zu werden. 1802 kam der Ex-Soldat und Ex-Student in die Schweiz und entdeckte in Thun an einem Haus eine Inschrift: „Ich komme, ich weiß nicht, von wo? Ich bin, ich weiß nicht, was? Ich fahre, ich weiß nicht, wohin? Mich wundert, dass ich so fröhlich bin.“ Dieser Spruch gefiele ihm „ungemein“, so Kleist an seinen Freund Zschokke. Und Zschokke schrieb über seine Schweiz-Touren damals mit Kleist und Ludwig Wieland, dass – Zitat - „die drei jungen Poeten“ wie „Schmetterlinge“ umherschwärmten, „die überall Paradiese und Wüsten, Götter und Ungeheuer sahn, wo sie kein andres Auge fand.“ Und Kleist war keiner, der nur in seiner Jugend Flügel haben wollte, um sie später abzulegen und wieder als Raupe von dem Blatt zu zehren, auf das man zufällig beschränkt wird.

Thun wird für Kleist zum Nicht-Ort, zu einem Ort der Utopie wie der Melancholie, zu einem Ort, wo sein altes Leben zugrunde gehen und er zugleich auf den Grund seines Daseins gehen und sich neu entwerfen kann. Als Dichter. In und durch Literatur. Hier schreibt er sein erstes Drama, Die Familie Schroffenstein, eine Variation des Romeo- und Julia-Stoffes. Kleists Liebende heißen Agnes und Ottokar, sie fliehen vor ihren miteinander verfeindeten Familien, in einem Idyll im Gebirge träumen sie von einem Neuanfang, dann kommen ihnen die Väter nach, und weil die Kinder die Kleider getauscht haben, um sich zu schützen, tötet jeder Vater, zornesblind, aus Versehen das eigene Kind. Der Tod der Kinder ist der Preis ihrer Mündigkeit. Ein Idyll im Gebirge findet sich auch in Kleists Brief an seine Schwester Ulrike vom Mai 1802, der Ihnen am Anfang dieser Matinée so glaubhaft vorgelesen wurde. Vielleicht gab es ein Mädeli, das Kleist werktags den Haushalt besorgte und sonntags in die Kirche ging. Dass Kleist mit ihr morgens aufbrach, während der Zeit ihrer Andacht das Schreckhorn bestieg und danach gemeinsam mit ihr ins Häuschen zurückkehrte, ist dagegen eine ausgemachte Schwindelei bzw. Produkt dichterischer Einbildungskraft, denn für den Aufstieg auf das 4078 Meter hohe und von Thun 70 km entfernte Schreckhorn, das noch heute als der bergsteigerisch anspruchsvollste aller Berner Viertausender gilt, dürfte die Dauer einer Andacht kaum ausreichen. Kleists Schwester ließ sich von den Briefen ihres Bruders selten täuschen, sie wusste, dass die Schweiz gerade alles andere als ein Idyll war, angesichts des Streites zwischen Unitariern und Föderalisten. So fuhr sie im Herbst 1802 von Frankfurt (Oder) bis ins Berner Land, schlug sich dabei durch „bewaffnete Truppen“ und holte den inzwischen mittellosen Bruder aus den Bürgerkriegswirren heraus. In die brandenburgische Heimat zurück konnte sie ihn nicht mehr bewegen. Er reiste mit ihr und ohne sie weiter.

Kleists Reisen in Mittel- und Westeuropa gehen auf zwei Atlasseiten. Anders verhält es sich mit Christoph Ransmayrs realen wie fiktionalen Expeditionen, da braucht man schon den ganzen Diercke. Seit Jahren reist er um die Welt, nicht schnell, nicht in achtzig Tagen. Er bricht immer wieder auf zu langsamen Wanderungen und kann davon so vielgestaltig erzählen, dass es für seine Leser zu einer Reise um den Tag in achtzig Welten wird. Der Titel Atlas eines ängstlichen Mannes, aus dem Sie gerade eine Erzählung gehört haben, klingt paradox. Er scheint zu Ransmayr ebenso wenig zu passen wie zu Kleist. Beider Reisen sind abenteuerlich, beider Dichtungen bezeugen in ihren immer neuen, offenen Versuchsanordnungen Mut zum Risiko. Kenntlich werden beide gleichwohl gerade in ihren Ängsten, und darin auch unterscheidbar.

Kleists Prinz von Homburg ist ein ängstlicher Mann, auf Ehre und Ruhm bedacht, im Angesicht seines Todes tröstet er sich mit den Worten: „Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!“ Und am Ende von Kleists Brief an Ulrike heißt es: „Ich habe keinen andern Wunsch, als zu sterben, wenn mir drei Dinge gelungen sind: ein Kind, ein schön Gedicht, und eine große That.“ Um sein Nachleben sorgt sich Kleist, und dafür sind ihm Kind, Gedicht und Tat einerlei, ja ein und dasselbe. In seiner Schöpferkraft will Kleist erkannt werden, als ein prometheischer Dichter versteht er sich, in seinen Werken Menschen nach seinem Bilde formend. In seinem Erstlingsdrama nimmt er es mit Shakespeare auf, im Amphitryonübertrumpft er Molière, und einer Erinnerung seines Freundes Pfuel zufolge wollte er Goethe „den Kranz von der Stirn reißen“.

Dem Geniekult des 18. Jahrhunderts ist Kleist noch gänzlich verhaftet. Kreativität ist für ihn agonal, eine rebellische Erfindungs- und Selbstfindungskunst, ihr Katalysator die „querelle des anciens et des modernes“, der Wettstreit der Generationen. Von solcher Agonalität ist Ransmayrs Atlas-Erzählung, die Sie gerade gehört haben, gänzlich frei. Schon der Titel – Die Übergabe– verrät, dass hier von einer Kultur erzählt wird, die ihre Entwicklung nicht als Querelle, als Fortschreiten von der Tradition, als Überholung des Alten durch das Neue definiert. Dreißig Jahre lang ist Sang, Bootsmann in Laos, den Mekong stromauf, stromab gefahren, auf unzähligen Fahrten hat ihn sein Sohn Lae als Matrose begleitet und am Vorbild des Vaters gelernt, bekannte Gefahren, Stromschnellen, Strudel, Untiefen zu umschiffen, sich dabei jedoch auf vorgezeichnete Skizzen und Karten des Fahrwassers nicht allein zu verlassen, sondern – Zitat – „sein Bild des Stromes beständig [zu] erneuern“ durch aufmerksame Beobachtung aller seiner Veränderungen. Eine Erzählung von der Bootsmannskunst und zugleich ein Spiegel der Erzählkunst Ransmayrs, eine Erzählung, die Kunstfertigkeit nicht als rebellischen Eigensinn versteht, sondern als einen in die Gesetze der Natur und der sozialen Tradition eingebetteten Beziehungssinn, als evolutionären Prozess statt als revolutionäre Neuerung. Ängstliche Männer sind beide, Sang, der Vater, der von den Bomben des Vietnamkrieges aus seiner Heimat geflohen ist, wie Lae, der Sohn - ängstlich auf das Überleben der Menschen bedacht, die ihnen anvertraut sind.

Wer will, mag beim Bootsmann an Jesus denken, der das Christenschiff in den sicheren Hafen bringt, an Charon und andere Fährmänner zwischen Diesseits und Jenseits oder beim Titel Atlas nicht ans Kartographieren, sondern an die griechische Sagengestalt, die das Himmelsgewölbe stemmt, um den Skyfall, den Untergang alles Irdischen zu verhindern. Solche allegorische Lektüren vereinfachen jedoch Ransmayrs große Kunst. Man muss und darf diesen Autor im Leben wie im Schreiben beim Wort nehmen. Im Vorwort zum Atlas versichert er, dass „ausschließlich von Orten die Rede sei“, an denen er gelebt oder die er bereist habe, und „ausschließlich von Menschen“, „denen er dabei begegnet“ sei, und ebenso gewiss sei, dass „Geschichten sich nicht ereignen, Geschichten werden erzählt.“ Reisend wie erzählend wagt Ransmayr stets Expeditionen ins Ungewisse. Entscheidend ist, dass er in dieser doppelten Bewegung nicht vom Fremden ins Eigene übersetzt, sondern aus dem Eigenen ins Fremde ausgeht, ins Fremde übersetzt. Reisen wie Erzählen sind ihm komplementäre Praktiken zur Erforschung der Metamorphosen von Natur und Kultur. Von den globalen Metropolen als Orten technischen und wirtschaftlichen Fortschritts hält er sich fern. Es interessiert ihn nicht, was gerade ‚cutting edge’ oder ‚state of the art’ ist, sondern was bewahrenswert und nachhaltig sein könnte. Im geographisch Peripheren wie in den Archiven der Vergangenheit zündet er die Funken der Hoffnung an. Ransmayrs Romane, von Die Schrecken des Eises und der Finsternis und Die letzte Welt bis Cox, sind Raum- und Zeitreisen auf der Suche nach der erfundenen Wahrheit, wie auch der Atlas, dessen mental maps nicht westlichen Messtischblättern folgen. Ransmayr springt zwischen Orten und Zeiten, zwischen und in den Geschichten. Die Erzählung Flugversuche z.B. handelt von einem Vogelwart, der seine ob des Todes der Mutter traumatisierte Tochter geheilt hat, indem er mit ihr beobachtete, wie Albatrosse an der neuseeländischen Küste mühsam flügge werden, um dann ein Leben lang in den Lüften zu sein. Während seiner Erzählung läuft im Radio ein Song von Bob Dylan: „I wish someone would come/ And push back the clock for me“, da unterbrechen Nachrichten die melancholische Ballade: Nachrichten von einem Erdbeben in Wellington, von einem Mord in Christchurch, vom Krieg in Afghanistan, vom Krieg in Südosteuropa, vom Amoklauf eines Schülers in den USA. Wie Dylans Ballade so unterbricht auch Ransmayr seine Erzählkunst immer wieder, er akzentuiert damit die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und demonstriert in diesen Unterbrechungen, was die Lebensformen bedroht, für deren Überleben es sich zu sorgen und zu erzählen lohnt. Die Erzählung Die Flugversuche endet jedoch nicht mit den Radionachrichten, sondern mit dem Aufstieg eines jungen Königsalbatros, der mit einem Triumphgeschrei davon segelt. Mit einem Bild der Levitation, der Freiheit von irdischer Schwere und allen Ländergrenzen, welches ganz unbildlich, also wörtlich zu verstehen ist – solange es solche Vögel gibt.

Dem schwermütigen Nomaden Kleist, der sich nach solcher Leichtigkeit und Grazie sehnte, hätte dieses Schlussbild gefallen. Dass Christoph Ransmayr heute den Kleist-Preis erhält, verdankt er, verdanken wir dem Vertrauensmann der Jury, László Földényi, dem Herausgeber der ungarischen Kleist-Ausgabe und Autor des Kleist-Buches Im Netz der Wörter, 1999 erschienen, das bis heute Kult ist bei Kleist-Forschern wie bei Theaterregisseuren, ein Kleist-Porträt, verfertigt aus 100 Stichwörtern von ‚Ach’ bis ‚Zufall’, das kein Steckbrief ist, der Kleists Bild Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Angesicht stillstellt, sondern Kleist als Unruhestifter zeigt, der Fragen stellt, die nicht aufhören weh zu tun. Wie auch Földényi im übrigen, in jedem seiner Bücher über Caspar David Friedrich, Goya, Dostojewski, Imre Kertész, Kafka oder de Chirico.

Ulrich Khuon und Ulrich Beck darf ich danken: für die Gastfreundschaft des Deutschen Theaters und das Arrangement der Preisverleihung, ebenso Maren Eggert und Christian Muthspiel für die Intensität ihrer Spiel- und Lesekunst. Mein Dank gilt weiter den Sponsoren des Kleist-Preises, den ich persönlich adressieren darf, heute an Frau Vogel, Frau Dr. Wagner und Frau Bückmann. Ohne die finanzielle Förderung der Holtzbrinck-Publishing Group gäbe es nicht seit über drei Jahrzehnten wieder eine feste Kleist-Preistradition. Gleiches gilt für den Bund und die Länder Berlin und Brandenburg. Anlässlich der gelungenen Kooperation von Kleist-Museum und Gesellschaft im Kleist-Gedenkjahr 2011 wurde uns vom BKM eine Stiftung in Aussicht gestellt, die die Arbeit beider Institutionen fördert, wie ich es am Ende jeder Kleist-Preisrede seit dem Jahr 2000 regelmäßig vorgeschlagen hatte. Für das Kleist-Museum ist dieses Versprechen jetzt eingelöst worden, mit Hilfe einer großzügig ausgestatteten Landesstiftung, was uns – ehrlich und neidlos - freut, aber ebenso würde es uns freuen, wenn unsere Gesellschaft in diese Stiftung integriert werden könnte, in welcher Form auch immer, denn nur ehrenamtlich ist unser vielfältiges Engagement für das Eingedenken Kleists wie für den Kleist-Preis und damit für die Gegenwartsliteratur nicht länger zu leisten, weder personell noch finanziell. Die Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft versammelt im In- und Ausland Kleist-Experten aus Wissenschaft, Theater, Literatur und Film. Von ihren Impulsen hängt auch die Zukunft des Kleist-Museums entscheidend ab, und wir würden die Zusammenarbeit gern fortsetzen. Verzeihen Sie mir diesen Notruf, lieber Herr Ransmayr, dies ist Ihr Ehrentag, das habe ich nicht vergessen und das macht uns jetzt gleich László Földényi wieder klar, auf dessen Rede wir uns freuen wie auf Ihre Dankesrede. Zuletzt darf ich mich noch bei Monika Schoeller und dem S. Fischer-Verlag bedanken, für die Einladung zu einem Empfang nach der Preisverleihung.