Kleist-Preis 2018

Laudatio: László Földényi - Im Banne des weißen Fleckes

Ob Heinrich von Kleist zu Lebzeiten je den Kleist-Preis erhalten hätte? Vermutlich nicht. Nein, gewiss nicht. „Was ... den Styl betrifft, so ist dieser zu undeutsch, steif, verschroben, und … gemein”, schrieb etwa Karl August Böttiger, einer der maßgeblichen Kritiker der Zeit, über die Marquise von O..... Die Ansicht, dass Kleist des Deutschen nicht wirklich mächtig und seine Sprache unmöglich sei, war allgemein verbreitet. Der Kleist-Preis für einen Autor, der im Schatten Goethes derart umständlich beschreibt, wie Lisbeth der Atem stockt, als sie erfährt, dass Kohlhaas seine Besitzungen verkaufen will – einer meiner Lieblingssätze aus Kohlhaas: „Sie wandte sich, und hob ihr Jüngstes auf, das hinter ihr auf dem Boden spielte, Blicke, in welchen sich der Tod malte, bei den roten Wangen des Knaben vorbei, der mit ihren Halsbändern spielte, auf den Roßkamm, und ein Papier werfend, das er in der Hand hielt.“

Ein verschrobener Satz, ohne Zweifel. Müsste ich nach zeitgenössischen Parallelen suchen, fielen mir als erstes nicht Schriftsteller, sondern ein Gemälde ein: Caspar David Friedrichs Das Eismeer. Dort sind es die Eisschollen, die sich genauso brüchig übereinander schieben wie hier die Hypotaxen und Parataxen, sie bringen den feststeckenden Schiffsrumpf zum Bersten, zersprengen alles. Selbst die Leinwand vermag sie kaum zusammenzuhalten. Und doch ist das Ganze genau konstruiert, der Entwurf makellos. Und doch ist das Ganze genau konstruiert, der Entwurf makellos. Wie auch Kleists Satz, der einerseits labyrinthisch strukturiert ist, andererseits aber auch zielgerichtet; am Ende kommt die Grammatik doch zu ihrem Recht. Das Gemälde würde ich persönlich Eisfalle nennen. Das Schiff steckt in der Falle, die Bildkonstruktion steckt in der Falle. Bei Kleist wiederum steckt die Sprache in der Falle. Und dennoch hat das Ganze etwas Erhabenes, Betörendes.

Eisfalle. Der Ausdruck stammt natürlich nicht von mir, ich habe ihn Christoph Ransmayr entlehnt, seinem Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis, der Szene, in der die verunglückten Nordpolreisenden zur Einsicht gelangen, dass sich „die Eisfalle ... nicht mehr öffnen” wird. Hier habe ich aber nicht das Eis und den Schnee und auch nicht die Geschichte der Nordpol-Expedition im Blick, sondern die eigentümliche Satzstruktur, die sich so schwer tat, in der deutschsprachigen Literatur akzeptiert zu werden. Zwei Jahrhunderte später sehe ich sie in den Büchern Christoph Ransmayrs wieder zum Leben erwachen. Wenn ich ihn lese, habe ich oft das Gefühl, auch Kleists Stimme zu hören. Wie Kleist schickt auch er seine Sätze behutsam auf den Weg, mit „langsamem, schweifendem Blick”, wie Cyparis, der Liliputaner, seine Kamera in Die letzte Welt, bevor er das Dickicht der Hypotaxen und Parataxen betritt, die den Leser zwingen, ihm immer konzentrierter zu folgen, um sich nicht zu verirren, bis er schließlich unvermittelt doch noch ins Ziel gelangt. Und überrascht feststellt, dass die Sätze in eine neue, bis dahin nie wahrgenommene Welt Einblick gewähren. Ja, eine neue Welt erschaffen. Hier ein beliebig ausgewählter Satz aus seinem Buch Atlas eines ängstlichen Mannes, in dem der Autor eine Gruppe Betender vor den Gittertoren der Anstaltskirche des Psychiatrischen Krankenhauses Am Steinhof in Wien beschreibt:

„Den Blick in das von zwei Ampeln nur schwach erhellte, golden schimmernde Kirchenschiff gerichtet, knieten oder standen die Betenden vor den versperrten Toren und umklammerten die Gitterstäbe, als ob die abendliche Weite in ihrem Rücken, die träge ziehenden Wolken, ja die ganze Stadt, die, aus der Höhe des Kirchenportals betrachtet, in einer blaugrauen Tiefe lag – Regionen einer vergitterten Welt wären und das verschlossene Halbdunkel, in das sie ihre Gebete, Lieder und Litaneien murmelten und sangen, die Freiheit, ein kostbar funkelnder, unendlicher Raum.”

Wie in dem eingangs zitierten Satz aus Kohlhaas geht es auch hier um einen Blick. Dort richtet sich der Blick aus dem Leben auf den Tod, hier aus dem Eingesperrtsein auf die Freiheit. Und wie bei Kleist ist der Satz auch bei Ransmayr an sich schon so wie das, wovon er handelt: ein verschlungenes Labyrinth, das den Leser immer mehr gefangen nimmt, um ihn am Ende unvermittelt doch noch zu beschenken – mit der Freiheit, die man beim Anblick des unendlichen Raumes empfindet. Ein komplexer Satz, keine Frage – ein Deutschlehrer mit Rotstift in der Hand könnte ihn in mindestens zehn eigenständige Sätze zerlegen. Oder wenn nicht, so würde er zumindest die Hypotaxen eliminieren und das Ganze dadurch flüssiger machen. So verfuhren jedenfalls die nachfolgenden Generationen mit Kleists Sprache, wenn sie seine Werke herausgaben und dabei unzählige „Korrekturen“ durchführten. Mal änderten sie die Anzahl der Absätze, mal verwandelten sie die indirekte Rede in Dialoge, modifizierten willkürlich die Interpunktion, splitterten einzelne Sätze in mehrere neue auf. Diese Gefahr droht auch Ransmayr. In seinem Buch Geständnisse eines Touristenzitiert er selbst einen Kritiker, nach dessen Ansicht „mein leider sehr übel geschriebener Roman Morbus Kitahara erst noch ’ins Deutsche zu übersetzen’ wäre.”

Was bedeutete eine solche Übersetzung? Indem man Kleists Sprache geglättet hatte, hatte man versucht, ihn der Sprache des Realismus des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts anzugleichen. Damit er wie Fontane oder der junge Thomas Mann klang. Und welchem Zweck diente eine „Übersetzung“ Ransmayrs? Dass er leicht verständlich, seine Sätze schnell erfassbar, seine Ausdrucksweise schmiegsam werde. Mit anderen Worten, dass er der Entwicklung angepasst werde, die Felix Philipp Ingold als die „McDonaldisierung der Literatur” bezeichnet hat. Damit der zügigen Informationsvermittlung nichts im Wege steht. Im Gegensatz zum gängigen Syntax, den das breite Lesepublikum heutzutage von der Literatur erwartet, vermitteln Ransmayrs Sätze nicht nur Information, sein eigentümlicher Satzbau und Sprachgebrauch haben vielmehr an sich schon Informationscharakter. Deshalb ist jedes seiner Worte von existenzieller Bedeutung. Ich lese seine Prosa auch deshalb so gern, weil sie sehr schnell in eine Region führt, die ich am ehesten mit der Dichtung assoziiere. Er legt nämlich den gleichen Wert auf die innere Struktur der Sätze wie auf das, wovon sie handeln. In der Dichtung ist das eine Selbstverständlichkeit. In der Prosa weniger: Da scheint das Was? in der Regel wichtiger zu sein als das Wie? Wie sagte doch in den 1920er Jahren Friedrich Gundolf – als kundiger Leser – über Kleists Prosa? „Er zuerst legt unter den deutschen Dichtern das Gewicht mit Erfolg mehr auf die Sagung als aufs Gesagte.” Genauso eigenartig und wunderlich wie das Wort Sagung ist auch Ransmayrs Sprache. Das Wie? lässt sich in seiner Prosa nie von dem Was? trennen. Seine Sätze wirken wie Lebewesen. Die Sprache selbst entfaltet und erschafft das, wovon sie dann sprechen wird. Er überträgt nicht einen Gedanken in Worte, die sich dann wiederum zu Sätzen zusammensetzen, sondern erst bei der Niederschrift der Worte entsteht der Gedanke und wächst sich zu einem Satz aus. So erkläre ich mir, dass ich, wenn ich ihn lese, oft sogar zu spüren glaube, wie er beim Schreiben Luft geholt hat. Seine Sätze haben sprichwörtlich einen Körper.

Wie sind Ransmayrs Sätze? Mit Thomas Bernhard gesprochen: „einfach kompliziert“. Grammatikalisch, syntaktisch sind sie fehlerfrei, doch hinter ihrer rationalen Struktur verbirgt sich etwas, was rational nicht zu fassen ist. Dabei geht es aber nicht um etwas Irrationales, sondern um etwas, was ich als unkartographierbar bezeichnen würde. Ich verwende dieses Wort bewusst, handelt es sich bei ihm doch um jemanden, der vermutlich alle belebten und unbelebten Regionen auf der Weltkarte bereits bereist hat. Die Last seines eigenen Lebens wird man ihm aber wohl nirgendwo abgenommen haben. Um ihn selbst zu zitieren: „Vermessen und kartographiert ist so gut wie alles, aber weitgehend unbekannt ist immer noch, was sich in einem selber auftut, wenn man durch eine ungeheure, übermächtige Landschaft geht.” Davon handelt für mich Atlas eines ängstlichen Mannes, den ich für das bedeutendste deutschsprachige Buch der letzten Jahre halte. Die Verlockung dieses „noch nie Gesehenen“ ist es, was Ransmayrs Helden umtreibt; sie sind ständig auf der Suche nach etwas, das sie vielleicht gar nicht finden zu können glauben, von dessen Vorhandensein sie aber felsenfest überzeugt sind. Was es ist, wissen sie selbst nicht. Schließlich suchten die Polarreisenden nicht den Nordpol, sondern das Paradies und fanden es auch, obwohl sie auf halbem Wege umkehren mussten. Die Protagonisten von Morbus Kitahara sind auf der Suche nach Versöhnung. Der Erzähler von Atlas ist ständig unterwegs, doch führt sein Weg wie der Heinrich von Ofterdingens „immer nach Hause”. Die Helden von Der fliegende Berg wiederum sind hinter dem weißen Fleck her, „jenem makellos weißen Fleck / in den wir dann ein Bild unserer Tagträume / einschreiben können.”

Ja, der „weiße Fleck“. Davon wollte ich eigentlich von Anfang an sprechen. Was ist der weiße Fleck? Ein unstillbares, inneres Verlangen, das den Reisenden allen Widerständen zum Trotz immer wieder aufbrechen lässt, auf der Jagd nach etwas, von dem er nicht einmal wirklich Rechenschaft geben könnte. Wenn ich an den Titel von Ransmayrs erstem Buch denke (Die Entdeckung des Wesentlichen), würde ich sagen: der weiße Fleck ist das, was traditionell als Wesen bezeichnet wird. Ransmayr hütet sich natürlich, das Wort „Wesen“ zu verwenden, wie auch die Worte „Metaphysik“ oder „Transzendenz“. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass er sie gar nicht im Sinn hat, sich mit ihnen gar nicht beschäftigt. Der Grund dafür liegt vermutlich darin, dass er nicht übersie, sondern ausihnen heraus schreibt, gleichsam aus ihnen herausblickt.

„Wesen“ – nur vorsichtig, gleichsam in Anführungszeichen spreche ich diese Worte aus, ebenso wie „Metaphysik“. Warum? Weil sie in der heutigen Zivilisation, die entschlossen allem den Krieg erklärt hat, worin sie das wittert, was man traditionell Wesen zu nennen pflegte, anachronistisch klingen. Obwohl es sich dabei um etwas sehr Einfaches handelt; mit Imre Kertész gesprochen, der es meines Erachtens auf den bisher knappsten Nenner gebracht hat: „Das Gebot lautet: du darfst dich mit allen Problemen des Lebens befassen, nur mit dem Leben als Problem an sich darfst du dich nicht befassen.“

Noch nie in der Geschichte der europäischen Kultur hat man so beharrlich versucht, die Metaphysik zu eliminieren. Sie zu eliminieren ist aber nicht möglich – aus dem einfachen Grund, dass der Mensch ohne Metaphysik nicht existieren kann. Sein Leben verdankt er einem Bruch, einem Riss – dem Sturz aus dem Nichtsein ins Sein –, und ein ähnlicher Bruch, ein ähnlicher Riss setzt ihm wieder ein Ende. In diesem Unbekannten, das dem Leben vorausgeht und folgt, liegen die Wurzeln der Empfänglichkeit für die Metaphysik. Schon infolge seines Wissens um die Vergänglichkeit ist der Mensch von Geburt an zum Heimweh nach dem Wesen und der Metaphysik verdammt.

Dieses Heimweh ist es, das mich bei der Lektüre von Ransmayrs Büchern sofort ergriffen hat. Es wirft den Schatten der Melancholie an alle seine Werke. Ja, der Melancholie, die uns mahnt, dass wir, und mögen wir alles noch so lückenlos absichern und die Welt noch so heimelig einrichten, eine Heimat nur inmitten der Heimatlosigkeit finden können. Dass sich hinter dem Optimismus, und mag er auch zur verbindlichen Weltreligion geworden sein, viele Fragen auftürmen, die ebenso beunruhigend sind wie die Welt, in die Ransmayr seine Leser einführt. Die Zeit, die Vergänglichkeit, die skandalöse Kürze des menschlichen Lebens und die genauso skandalös kurze Anwesenheit des Menschen im Universum – das alles hallt in seinen Werken als „weißer Fleck“ wider, das schafft den eigentümlichen Rhythmus seiner Sprache, macht seine Sätze so zerbrechlich und doch so fest. Dieser unkartographierbare weiße Fleck, dieses Objekt des Heimwehs durchdringt mich bei seiner Lektüre bis in die Poren hinein. Es ist gleichsam als Hintergrundstrahlung in seinen Schriften präsent. Oder als Generalbass. Und wenn schon Generalbass, dann eignet sich wiederum Kleist als Referenz, für den „im Generalbaß die wichtigsten Aufschlüsse über die Dichtkunst enthalten” sind. Die Sprache öffnen, damit wir für kurze Momente Einblick in jene Dimensionen gewinnen, die jenseits der Sprache sind und sich dennoch ausschließlich mittels der Sprache vergegenwärtigen lassen: das verdanke ich Ransmayr als sein Leser.

Aus dem Ungarischen von Akos Doma