Kleist-Preis 2020 (verliehen 2021)

Grußwort: Günter Blamberger – Nachleben/Black Box*

Sehr verehrte Damen und Herren,
liebe Mitglieder und Freunde der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft,
liebe Frau Strigl,
lieber Herr Setz,

der zwölfjährigen Sadako Sasaki hat die Kunst, Papierkraniche zu falten, nicht geholfen, ihr Leben zu verlängern, in Erinnerung jedoch ist sie geblieben – mit diesem Zeichen gegen den Tod und gegen den Krieg, stellvertretend für alle Opfer von Hiroshima. Warum aber sollte ein Tollpatsch, der betrunken vom Dach fällt, ein Recht auf ein Nachleben haben, auf fortwährende Erinnerung? Ist es nicht kurios, dass Homer in einem Heldenepos wie der Odyssee Elpenors Unglücksfall gleich zweimal erzählt? Und Clemens Setz in seiner Erzählung von Elpenor betont, dass niemand wissen könne, wie viele Grabdenkmäler es für Elpenor noch brauchen werde, weil seine »Ängstlichkeit«, in Vergessenheit zu geraten, »durch ein Unendliches gegangen« sei. Nicht die »Erkenntnis«, wie es bei Kleist im Essay Über das Marionettentheater im Unterschied dazu heißt. Laut Homer ist Elpenor weder »mit Tapferkeit« noch »mit Verstand« gesegnet, also ganz der Gegensatz zu Odysseus und zu den grandiosen Helden, die Odysseus in der Unterwelt noch treffen wird. Elpenor bekommt im Totenreich vor aller Prominenz allerdings den ersten Auftritt, und Odysseus verspricht ihm ein Grabmal. Aus »Mitleid«, so Homer. Auf einem Kalkfelsen, der ins Tyrrhenische Meer hineinragt, soll es gewesen sein, dem Monte Circeo, wie Archäologen vermuten. Nur eines allerdings, keinesfalls »an die hundertfünfzig« schon um das Jahr 300 n. Chr. in ganz Europa, wie es bei Setz heißt. Die Völker damals zwischen Rhein und Ural ­– Langobarden, Markomannen, Vandalen, Gepiden ­– sorgten sich nicht um Elpenors »Ängstlichkeit«, wohl aber Clemens Setz. Er zitiert auch noch Theophrasts Pflanzenbuch, um eine Myrte auf Elpenors Grab wachsen zu lassen, als immergrüne Pflanze ein Sinnbild in der Antike für eine über den Tod hinausgehende Liebe.

Bei Homer ist Elpenor Nebendarsteller, er dient dazu – so hat es Jean Giraudoux in seinen Erzählungen von Elpenor und Odysseus gedeutet – die »Halbwelt des Heldenepos von ihrer jämmerlichen Kehrseite« zu zeigen. Bei Setz ist Elpenor Hauptdarsteller. Er nimmt Elpenors Ängstlichkeit und Bitte ernst, so wie er alle Figuren seiner Prosa ernst nimmt, die stellvertretend für ihn und uns leiden, hoffen oder lieben. Vor allem leiden. Setz hat ein Faible für Verlierer, Ausgegrenzte, Kranke, Antihelden. Er ist auf ihrer Seite. Es ist kein Zufall, dass er Kleists Besuch des Würzburger Spitals für die heutige Lesung ausgewählt hat. Kein Zufall auch, dass in der Logik seiner Erzählung von Elpenor nicht nur Elpenors Ängstlichkeit, sondern auch die Erinnerung an ihn, das Mitleid mit ihm »durch ein Unendliches« gehen. Das ist unrealistisch, aber tröstlich für alle Sterblichen, die keine Helden sind. Damit handelt diese kleine Geschichte auch von den Wunschherrschaften der Literatur, von der Macht poetischen Denkens, Illusionen zu schaffen, die man zum Überleben braucht, auch wenn sie nicht lebbar scheinen. Auf philosophische Appelle verzichtet Setz dagegen. Aus Elpenors Zufallstod wird kein ›memento mori‹ an die Leser angesichts der eigenen Sterblichkeit ihr begrenztes Dasein in jedem Lebensaugenblick sinnvoll zu gestalten.

Geraucht hat Kleist sicher, den Vorwand, Zigaretten zu holen, um sich von seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge davonzustehlen, jedoch nicht gebraucht. Am 14. August 1800 verschwindet er aus Frankfurt/Oder, die Kutsche rollt im »Halbdunkel des Morgens« an Wilhelmines Haus vorbei. Wilhelmine wird ihn nie mehr wiedersehen und seine Flucht nie verstehen können. Aus dem Zweck seiner Reise macht er ein Geheimnis, über das bis heute alle Kleist-Philologen rätseln. Immer wieder wollte Kleist abhauen, wie Setz’, Zigaretten-Flüchtlinge sogar einen Tunnel ins Erdreich graben, nicht unter der Erde wie bei Setz, sondern durch die Erdmitte, um zu den Antipoden nach Australien zu gelangen. Und weil es im Erdinneren flüssig werden würde, entwarf er dafür in Königsberg sogar ein U-Boot. So phantastisch das bei Kleist in der Realität und bei Setz in der Fiktion ist, eigentlich geht es ja nicht darum, wie, sondern warum jemand so plötzlich sein bisheriges Leben hinter sich lässt, statt es kontinuierlich und vertrauensvoll für alle fortzusetzen. Psychologische Erklärungen dafür sucht man bei Kleist wie bei Setz allerdings vergeblich. Kleist hat Physik studiert, Setz Mathematik, das merkt man ihren literarischen Experimentieranordnungen an. In Kleists Worten: »Man könnte die Menschen in zwei Klassen abteilen; in solche, die sich auf eine Metapher und 2) in solche, die sich auf eine Formel verstehn. Deren, die sich auf beides verstehn, sind zu wenige, sie machen keine Klasse aus.« Dass Kleist wie Setz sich auf kühnste Metaphern verstehen, weiß man. Nach welchen Formeln aber funktioniert Kleists, nach welchen Algorithmen Setz’ Logik der Dichtung?

Bei Kleist ist es das Gesetz der Kontaktelektrizität: Demnach verhalten sich Menschen in ihren Anziehungs- und Abstoßungskräften wie elektrische Körper. Wenn einer einen anderen treffe, so wird – so Kleist – »sein Wesen gänzlich in den entgegengesetzten Pol hinübergespielt; er nimmt die Bedingung + an, wenn jener von der Bedingung -, und die Bedingung -, wenn jener von der Bedingung + ist.« Dieses gegensätzische Prinzip macht laut Kleist das ganze Leben zu einem Kampf mit wechselnden Partnern, wobei die Schwäche des Einen zur Stärke des Anderen werden und jeder neue private oder berufliche Partner einen qualitativ je anders auf- oder entladen kann. Damit ist jede idealistische Hoffnung auf eine lebenslang stabile Identität dahin. Man wird in seinen Eigenschaften abhängig von dem, den man gerade trifft. Aus dem Polaritätsprinzip gewinnt Kleist auch eine Antipädagogik und schlägt in den Berliner Abendblättern vor, »Lasterschulen« zu gründen, damit die Schüler, im Widerspruch zu ihren liederlichen Lehrern tugendhaft würden. Und damit sind wir wieder bei Setz. Die Geschichte von den Männern, die Zigaretten holen und verschwinden, die auf so unheimliche und plötzliche Weise ihre Identität wechseln, steht in seinem Roman Indigo, der von einem Internat in der Steiermark handelt, von Helianau, in dem Kinder mit einer seltsamen Aura unterrichtet werden. Wer länger in der Nähe der Kinder ist, wird physisch und psychisch krank. So bewegen sich die Kinder zwangsweise in räumlich streng abgegrenzten Zonen. Abstandswahrung ist das oberste Gebot. Eine Romanfigur, ein Mathematiklehrer namens Clemens Setz, missachtet diese virale Geometrie, um das Geheimnis der Kinder zu ergründen, mit für ihn fatalen Folgen.

Das Gegenüber als black box und das Böse als ein Virus, das unsichtbar im Inneren eines Menschen wirkt und andere ansteckt. Oder als elektronischer Roboter sich ins Hirn einschleicht. Es gibt bekanntlich schädliche Bots, Computerprogramme, die unsere Netzwerkkommunikation ausspionieren, uns mit spams und angeblich passgenauen Werbungen zumüllen, es gibt virale Figuren der Steuerung in den social media, Verleumdungen und Hassbotschaften, die Menschen plötzlich aus ihrem bisherigen Leben reißen. Es gibt aber auch nützliche Bots, wie Clemens Setz in einem Selbstversuch demonstriert hat. Im Buch ›Bot. Gespräch ohne Autor‹ wertet künstliche Intelligenz vorgeblich Texte von Setz aus, und antwortet so auf Interviewfragen. Ein-Clemens-Setz-Bot, die ausgelagerte Seele des Autors, wie es im Klappentext heißt. Kann man so das Verstehen sichern? Missverständnisse vermeiden? Von der Kontrolle der Kommunikation träumen auch die Erfinder von Plansprachen wie Esperanto, Volapük oder Blissymbolics in Setz’ letztem Buch Die Blumen und das Unsichtbare. Setz zeigt, dass ihr Verlangen nach Eindeutigkeit, nach ›pure meaning‹ sie einsam macht, manchmal auch herrschsüchtig, und entfaltet zugleich den Klang- und Konnotationsreichtum ihrer Gedichte. Als Sonderlinge hätte man sie früher bezeichnet. Setz porträtiert sie liebevoll, er ist, anders als Kleist – Pardon – kein hochmütiger Autor, ein Verteidiger des Kleinscheinenden, auch in kleinen und populären Formen, in täglichen Tweets, in denen er seine Stimme den Stimm- und damit Rechtlosen leiht, vor allem Tieren, Hasen, Ziegen oder wie zuletzt in der Büchner-Preisrede Pferden. Oft witzig, aber die Verzweiflung dahinter ist in seinen Texten immer spürbar. Vermutlich auch für die »geheimnisvolle Frau«, die während einer Lesung »leise aufsteht und geht«, wie in dem Gedicht aus dem Band Vogelstraußtrompete, das Sie gerade gehört haben. Mich hat ihre Reaktion an die des Zirkusbesuchers in Kafkas Erzählung Auf der Galerie erinnert, der das brüchige Glück der Kunstreiterin durchschaut oder »wie in einem schweren Traum versinkend, weint, ohne es zu wissen«, während das Publikum ihrem »großen Salto mortale« applaudiert.

Die Seele, das Herz auszulagern, davon träumte auch Kleist. Im März 1803 schrieb er an seine Schwester: »Ich weiß nicht, was ich dir über mich unaussprechlichen Menschen sagen soll. – Ich wollte ich könnte mir das Herz aus dem Leib reißen, in diesen Brief packen, und dir zuschiken. – Dummer Gedanke.« Zweifellos. »Seelen lassen sich nicht berechnen«, so warnt Prothoe Achill. Vergeblich, er fällt Penthesilea zum Opfer, weil sie Küsse und Bisse verwechselt. Die Erkenntnisunsicherheit ist der Katalysator von Kleists Dramen und Erzählungen. Jeder Mensch bleibt für ihn eine black box, nicht nur die Insassen der Würzburger Heilanstalt, deren Verhalten Kleist schildert, ohne dabei in ihr Inneres zu dringen. Es geht natürlich auch anders, was Kleist am eigenen Leib erfahren hat. Heute ist Kleists 210. Todestag, und zugleich Totensonntag, der letzte Sonntag vor dem ersten Advent, den Friedrich Wilhelm III. per Kabinettsorder 1816 zum Tag alljährlicher Erinnerung an die Verstorbenen bestimmte. Um die Gefallenen der Befreiungskriege zu ehren, im Gedenken an Preußens Lady Di, seine 1810 verstorbene Gattin Luise, und andere ihm wie seinen Untertanen teure Tote, zu denen Kleist für den König nicht gehörte. Kleists Freund Peguilhen verbat der König »den Mißbrauch« öffentlicher Blätter für eine Verteidigung des Selbstmords, und die Ärzte mit den seltsamen Namen Dr. Sternemann und Greif, die Kleist obduzierten, waren dem König gleichfalls zu Willen. Unmittelbar nach der Leichenschau am 22. November 1811 notierten sie noch, dass Kleists innere Organe im »Normal Zustande« waren. Den Kopf hatten sie auch aufgeschnitten, das Gehirn schichtweise zerlegt, ohne etwas Krankhaftes zu entdecken. Im finalen Obduktionsbericht griffen sie deshalb auf die antike Humoralpathologie zurück, und dichteten Kleist »viel verdicktes schwarzes Blut« und »viel verdikte Galle« an, um daraus einen »excentrischen« bzw. »kranken Gemüthszustand des Denati« abzuleiten. Kleists Person und Werk haftete von nun an das Stigma des Krankhaften, Heillosen an, Goethes »Schauder und Abscheu« vor diesem Dichter taten ein Übriges, Kleist geriet für Jahrzehnte in Vergessenheit und fand in der Unterwelt lange Zeit niemanden, bei dem er sich darüber hätte beschweren können.

Es waren die Schriftsteller der Moderne, die Anfang des 20. Jahrhunderts wieder an Kleist erinnerten: Kafka, Wedekind, Schnitzler, Hofmannsthal, Dehmel, und Regisseure wie Otto Brahm und Max Reinhardt, hier vom Deutschen Theater. Sie halfen auch, den Kleist-Preis zu stiften, der seit 1912 ein Doppelporträt ist, in dem sich Namensgeber und Preisträger spiegeln, so wie in den Lesungen heute die ineinander verfugten Texte von Kleist und Setz. Der Erfolg des Kleist-Preises verdankte sich immer der Urteilskraft der Vertrauenspersonen, die in alleiniger Entscheidung die Preisträger bestimmten. Preisträger wie Bert Brecht, Robert Musil, Else Lasker-Schüler von 1912 bis 1932, wie Heiner Müller, Ernst Jandl, Herta Müller, Gert Jonke, Yoko Tawada oder Christoph Ransmayr nach 1985. Clemens Setz gehört jetzt zu ihnen, mit Recht. Daniela Strigl hat ihn ausgewählt. Dafür danke ich Ihnen sehr herzlich im Namen der Jury. Mein Dank hier müsste ausführlicher ausfallen, stattdessen verweise ich auf die Laudatio, die Lothar Müller, der heute unter uns ist, anlässlich Ihrer Auszeichnung mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis 2019 gehalten hat, in der sie so wundervoll kenntlich werden. Man findet sie auf der Website der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Besser geht’s nicht. Für die großzügige Förderung des Kleist-Preises danke ich sehr herzlich dem Bund und den Ländern Berlin und Brandenburg wie der Holtzbrinck-Publishing Group, im Besonderen Stefan von Holtzbrinck. Elke Vogel vom BKM ist es zu danken, dass sie es gegen alle Bürokratie ermöglichte, den Kleist-Preis 2020 zu zahlen und 2021 zu verleihen. Sie hat uns allen damit den Blick in die öden Kachelbilder eines Webinars erspart, leider nicht dem Preisträger heute. Eine Besonderheit der Kleist-Preis-Verleihung ist ja, dass über die Preisträger in Anwesenheit ihrer Texte gesprochen wird, dass ihre Texte Gehör finden. Wie faszinierend und zugleich beunruhigend das ist, haben wir heute wieder erleben dürfen, dank der Interpretationskunst der Schauspieler und Musiker des Deutschen Theaters. Für die Inszenierung hat Bernd Isele gesorgt. Ganz herzlichen Dank dafür. Ein ebenso herzlicher Dank gilt Dr. Björn Moll, der den Kleist-Preis seit Jahren so vortrefflich organisiert, sowie David Gabriel, der ihn nicht nur heute unterstützt hat. Der Suhrkamp-Verlag hat den Empfang aufgrund der hohen Infektionszahlen verständlicherweise abgesagt. Auf Gespräche nach der Verleihung im Foyer müssen Sie deshalb nicht verzichten, es gibt dort auch eine Bar und vor allem einen Tisch mit den Büchern von Setz. Vermutlich fürchten Sie im Augenblick, dass auch mein Grußwort durch ein Unendliches geht. Ich bitte um Nachsicht. Es ist das letzte nach 25 Jahren in der Verantwortung für die Preisverleihung als Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft. Sie dürfen hoffen, dass die Grußworte in Zukunft kürzer ausfallen. Lassen Sie mich zuletzt den Mitgliedern unserer Gesellschaft danken, die mir so lange ihr Vertrauen geschenkt haben, und Ihnen allen, dem Berliner Publikum, dass Sie den Preis so wunderbar angenommen haben. Seit 20 Jahren ist er hier in Berlin zuhause. »Poesie ist die Suche nach Glanz«, heißt es in einem Vers des kürzlich verstorbenen polnischen Dichters Adam Zagajewski. Suchen wir weiter danach, zusammen mit den Dichtern und Schauspielern hier, auch in den nächsten Jahren. Es ist ein großes Glück. Langweilig wird es mit Kleist und den Kleist-Preisträgern nie werden.

*Die Rede bezieht sich auf folgende während der Preisverleihung von Schauspielern vorgetragenen Texte: Clemens Setz, Elpenor. In: Der Trost runder Dinge. Erzählungen. Berlin: Suhrkamp, 2019, S.215-217; Ders., Indigo. Roman. Berlin: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 2. Aufl. 2015, S. 110-112 (= Kap. 6 Zigaretten holen) sowie Kleists Würzburger Brief an Wilhelmine vom 13. und 14. September 1800 (DKV IV, S.117-121).