Kleist-Preis 2019

Laudatio: Yoko Tawada

Anfang der Neunziger Jahre begegnete ich Ilma Rakusa zum ersten Mal in einem der schönsten Dreiländerecke der Welt: in Graz. Es waren nichts weiter als Weinblätter, die eine germanische Sprache von einer slawischen und einer finnougrischen Sprache trennten. Trennen? Vielleicht sollte man besser sagen: verbinden. Außerdem sollte ich lieber "Dreispracheneck" sagen, denn im Wort „Dreiländereck“ ist das Wort „Länder“ zu viel. Aber selbst das Wort "Dreispracheneck" ist nicht ausreichend. Wieso nur drei? Alle Menschen bringen eine oder mehrere zusätzliche Sprachen mit sich, vermischen zwei Sprachen miteinander und schaffen eine dritte Sprache. Oder sie schweigen mehrsprachig und träumen in den Sprachen, die sie nie gelernt haben. Die Sprachen sind unzählbar.

Damals in Graz gab Rakusa nicht nur eine Lesung aus ihren eigenen literarischen Texten, sondern stellte einen französischen Autor vor, und es dauerte eine Weile, bis ich begriffen hatte, dass sie eine deutschsprachige Dichterin aus der Schweiz ist, die aus dem Französischen, Russischen, Ungarischen und weiteren, europäischen Sprachen übersetzt. Es war das erste Mal, dass ich eine waschechte Europäerin erlebte. Damit möchte ich keinen Unterschied zwischen einer falschen und waschechten Europäerin machen, sondern ich nehme das Wort "waschecht" ernst und sehe vor Augen, wie die Textilien ihrer Texte durch das Wasser vieler Sprachen gewaschen worden sind. Wie kommt sonst dieser zarte, fast durchsichtige und kraftvolle Glanz in ihre Sprache?

Die Dichterin, die ich in Graz kennenlernte, hatte schon lange, bevor „Europa“ zum Modethema wurde, praktiziert, eine Europäerin zu sein.

In den letzten Jahren wunderte ich mich oft darüber, dass sich so viele Menschen – unter ihnen auch viele muskulöse, tätowierte, zum Teil bewaffnete Männer – vor einem Gespenst Europa fürchten. In Rakusas Prosa hingegen begegne ich immer wieder jener zierlichen Mädchenfigur, die ohne jede Furcht in einer unendlich offenen Welt unterwegs ist. Sie verschlingt Kinderlieder, Märchen, Landschaften und Menschengesichter mit Neugierde. Ihr Blick auf die Menschen ist respektvoll distanziert, aber keineswegs kalt. Manche Personen, die sie beschreibt, tragen sichtbare und unsichtbare Wunden, die ihnen ein Krieg oder der Kampf gegen eine Diktatur zugefügt haben. Ich denke oft an „Onkel Misi“ aus „Mehr Meer“, als wäre er mein Verwandter. Das Mädchen begegnet jedem Menschen ohne Vorurteile und sucht sorgfältig treffende Wörter, um ihn zu skizzieren. Sie nimmt sich die Zeit, die sie dafür braucht – genau wie eine Übersetzerin, die langsamer liest als eine gewöhnliche Leserin. Auch Musik ist für sie nicht etwas, was man schnell konsumiert. Stattdessen studiert sie Melodien und Akkorde geduldig mit ihren Fingern. Es gibt keine langsamere Art, Musik zu genießen als sie zu üben, bis man sie selber spielen kann. Die Stunde des Musizierens mit einem Jungen ist mit der der Liebe verbunden oder besser: Musizieren könnte eine Form der Jugendliebe sein. Das Mädchen kennt nicht die Geschwindigkeit, mit der heute schnell eine Menge Daten digital gesammelt und analysiert wird. Sie entwickelt sich anders schnell, denn in ihren jungen Jahren wurde sie schon vollkommen reif für die moderne Musik und zeitgenössische Literatur. „Langsamer!“ ruft uns die Autorin in ihrem Essayband zu. Wer ihn gelesen hat, versteht die kostbare Langsamkeit, die die Lektüre eines poetischen Textes von uns verlangt. Hochwertige Wörter brauchen Zeit, damit Assoziationsketten aufhören, Ketten zu sein und einen Raum gewinnen, in den persönliche Erinnerungen der Leserinnen mit literarischen Figuren zusammenwachsen. Eine extrem langsame Form der Lektüre ist die Übersetzung. Jedes Wort verweist auf mehrere Wörter, mögliche Zukunftsfiguren. Eine Übersetzerin hält alle denkbaren Wege offen, bleibt weiter auf der Suche und doch muss sie sich am Ende für ein Wort entscheiden. Es gibt keine Antwort, aber doch so etwas wie eine Verantwortung.

Rakusa bleibt auch in ihrem dicken Buch „Mehr Meer“ schlank, liefert keinen Berg der Formulierungen, der sich am Ende doch kurz zusammenfassen lässt. Je minimalistischer der Text, desto unzähmbarer die Sprache.

Eines meiner Lieblingsbücher ist „Jim. Sieben Dramolette“. Das Wunder eines Dialogs. Eine Bühnenkunst, die ich noch nie so gesehen habe. Neue Sprachrhythmen für das Theater. Eine Serie von Denkübungen.

Auch ich gehöre zur internationalen Gruppe der Autoren, die vor dem 18. Lebensjahr die Droge namens Dostojewski zu sich nahm, dadurch von der Literatur abhängig wurde und später seinen Kontrapunkt, Anton Tschechow, zu schätzen begann, ohne die erste Liebe zu Dostojewski zu verraten. In Rakusas neuem Buch „Mein Alphabet“ finde ich den Namen Tschechow zwischen „Theater“ und „Tagebuch“. Wie treffend ist diese Platzierung! Eine mikroskopische Genauigkeit, die Stille, die Klarheit, der Verzicht auf das Dramatische. Ich sehe Gemeinsamkeiten mit Rakusas Schreiben, allerdings unterscheidet sich Tschechow mindestens in einem Punkt von ihr. Bei ihr gibt es keine Wehmut. Schon wieder denke ich, dass manche deutschen Wörter unbedingt das Genus ändern müssen: Die Wehmut ist männlich, während der Mut feminin ist.

Es war auch Rakusa, die mich von einer Einsamkeit befreit hat, zumindest, was das rollende R betrifft. Weltweit gibt es Menschen mit rollendem „R“ im Mund. Ohne ihr Buch wäre ich nicht auf diese Erkenntnis gekommen und hätte mein R weiter als eine persönliche Macke wahrgenommen und mich heimlich deswegen geschämt. Ich lernte nämlich in Japan Russisch und behielt das rollende R weiter in Hamburg als eine Spur meines persönlichen Umwegs und verließ es selbst dann nicht, als einige Hamburgerinnen mir sagten: „Sie sprechen ganz gut Deutsch, außer, dass ihr R etwas bayerisch klingt.“ „Nein, nicht bayerisch, sondern slawisch!“, erwiderte ich – vergeblich, denn viele Westeuropäer sind schon überfordert, wenn sie von Rakusa erfahren, wie russisch die Stadt Paris ist. Dass auch Japan ein slawisches Gesicht hat, ist ihnen zu viel. Dabei ist Europa – wie Rakusa es immer wieder zeigt – kein Patchwork, sondern ein Ozean ohne Zentrum, ohne Randgebiet und ohne Besitzanspruch. Die Geburtsstadt von Kleist, Frankfurt an der Oder, liegt daher auch nicht am östlichen Ende Europas. Rakusa erzählte oft genug vom Leben der Menschen, die östlich von dieser Stadt lebten und leben. Der Fluss Entweder-Oder kann nicht die Grenze sein, wo die Literatur endet. Ihr Schreiben beginnt am Mittelmeer, fließt mühelos über die Nordsee in die Ostsee, nicht nur wird der Atlantik von beiden Seiten, sondern auch der Pazifik wird von den beiden Seiten betrachtet. Dieses Meer ist kein Territorium, sondern Sehnsucht. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle auch die Rolle der Schweiz erwähnen. Denn ausgerechnet in diesem Land, das keinen Zugang zu einem Ozean hat, sind die meisten Texte von ihr entstanden. Der wichtigste Hafen der Autorin ist doch der Schreibtisch, ihr Schiff ist die Sprache und dort beginnt das imaginäre Wasser, das allein die Literatur kennt.