Kleist-Preis 2019

Günter Blamberger: Das Leben neu buchstabieren

Sehr verehrter Herr Botschafter Dr. Seger, sehr verehrte Frau Dr. Zeddies, Frau Bückmann und Frau Knoch, liebe Mitglieder und Freunde der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, lieber Herr Khuon, lieber Herr Isele, liebe Yoko Tawada, liebe und heute zu ehrende Ilma Rakusa,

einen Spiegelbrief haben Sie am Anfang dieser Matinée gehört. Kleist porträtiert Henriette, Henriette porträtiert Kleist, und das ist über die Maßen schön, zärtlich und spöttisch zugleich, ein Katalog, in dem alle Liebenden der Welt blättern könnten, die um Kosenamen verlegen sind, um dabei einzusehen, dass sie auf das Benennen des anderen vielleicht lieber verzichten sollten: Mein Jettchen, mein Herzchen, meine Eingeweide, mein Trauerspiel, mein Schutzengel – Mein Heinrich, mein Schoßkindchen, mein Graf Wetter, mein Werther, mein Erzdichter, meine Nerven...Die beiden treiben es ziemlich bunt mit ihrer Liste, die im Prinzip unendlich verlängerbar ist. Um den Übertritt ins Unbegrenzte geht es ihnen allerdings in diesem Augenblick, in der Nacht vor ihrem gemeinsamen Tod am 21. November 1811, in ihrem ersten wie letzten gemeinsamen Quartier, im Gasthof Stimming, der an der Brücke lag, die den Zufluss vom Kleinen zum Großen Wannsee überquert. Man könnte sich vorstellen, dass sie Zimmer an Zimmer oder Schreibtisch an Schreibtisch einander zuriefen und schrieben, so heiter und verspielt, ja „außerordentlich vergnügt“, wie es ihre Wirtsleute tags darauf von ihrer Todesstunde bezeugen: Hand in Hand seien sie zum See hinuntergesprungen, tanzend, schäkernd und sich jagend. Wenig später zwei Schüsse, Kleist erschießt Henriette, dann sich selbst. Ein Rätsel, der Nachwelt als Frage aufgegeben, eine der vielen offenen Fragen in Kleists Leben und Werken, die nicht aufhören, weh zu tun, und deshalb bis heute im Gedächtnis bleiben.

So erwartet man von letzten Worten doch Wahrheit, keine Dichtung, und schon gar kein galantes Maskenspiel mit Kosenamen wie im Spiegelbrief der beiden Todes-bereiten. Die Ausgangsfrage, die ihr Spiel in Gang setzt, ist schon Zitat, einem gänzlich verwirrten Manne nachgestellt, Graf Wetter vom Strahl aus dem Käthchen von Heilbronn: „O du --- wie nenn ich dich? Käthchen! Warum kann ich dich nicht mein nennen? Käthchen, Mädchen, Käthchen!“ stammelt der Graf, und Kleist wiederholt das in seinem Brief an Henriette: „o, liebste wie nen ich Dich? und setzt vor jedem Kosenamen dann das Possessivpronomen „mein“. Als wäre das harmlos, als erinnerte er sich nicht an den zweifelhaften Ausgang seines Ritterschauspiels. Kleists Käthchen fällt nach der Hochzeit in Ohnmacht, als sie begreift, warum und wie sie ihr Traummann in Besitz genommen hat. Staffel zwei von Kleists Käthchen könnte denn auch Ein Puppenheim heißen, aus der die Dame am Ende mit großer Konsequenz verschwindet: Ibsens Nora, weil Helmer, ihr Herr und Mann, sie nicht nur permanent „mein Singvögelchen“ nennt, sondern auch wie ein kleines zwitscherndes Haustier behandelt.

Wie erkenne ich Dich, wie nenne ich Dich, was ist der rechte Name, der das besondere, unvergleichliche Wesen des anderen bezeichnet – das ist eine alle Liebenden bewegende, ja gefährliche Frage, die Kleist und Henriette in der Übertreibung ihrer Anrufungen, durch die Erfindung immer neuer Kosenamen ad absurdum führen. Der andere ist unverfügbar, heißt das, und gerade in der Respektierung dieser Grenze ereignet sich Wahrheit, fallen Galanterie und authentische Herzenssprache, Fremdheit und Vertrauen in eins. Der gegenseitigen Achtung korrespondiert denn auch die Symmetrie ihrer Briefe.

Bezug statt Besitz. Davon handelt auch das wunderbar wahrhaftige Gedicht Ilma Rakusas, das Sie gerade als letztes gehört haben: „Zärtlichkeit kann man nicht lernen./ Zärtlichkeit geschieht.“  Zärtlichkeit geschieht: „Wenn du den Haarsaum des Kindes streichelst/ Wenn du tastend übers weiße Papier fährst./ [...] Wenn du die Erinnerungen nicht ad acta legst/ [...] Wenn du Gäste willkommen heißt, auch die zufälligen“. So heißt es am Ende einer Aufzählung, die so offen ist wie Kleists und Henriettes Namensspiel und offen bleiben soll, weil das Gedicht auf „zufällige Gäste“ hofft, auf Leser, die die Liste fortsetzen. Inhalt und Form, Ethik und Ästhetik sind hier kongruent, denn Zärtlichkeit ist Hingabe, Verausgabung, Anökonomie. Sie ist gegen alles Besitzdenken gerichtet, sie rechnet nicht und lässt sich nicht berechnen, wie dieses Gedicht Vers für Vers für Vers für Vers in seiner Poetik des Enumerativen.

„M’illumino/ d’immenso“, „Ich erleuchte mich/ Durch Unermessliches“, so hat Giuseppe Ungaretti die Funktion der Poesie einmal bestimmt. Seine Verse könnten als Motto auch über dem ersten Text stehen, den Sie heute von Ilma Rakusa gehört haben: „Lied“ genannt: „Wie lange dauert der Schneerausch/ wie lange das Staunen der Nacht/ [...] wie lange lenkst du ein Kind/ [...] /wie lange stehst du im Mantel/ und wartest auf eine Hand/[...]“. Wieder eine Aufzählungsform, bei der man das Zählen verlernen soll, wieder ein Exempel dafür, dass Ilma Rakusa eine poeta docta, ihr Schreiben ästhetisches Denken ist, ein Denken in und durch die Formen von Poesie und Prosa, das, anders als das diskursive Denken der Wissenschaften, auch die Bereiche des Unbegrifflichen zu erkunden versucht, die ihr und unser aller Leben bestimmen. Schweizer Uhren sind bekanntlich die besten der Welt, mit ihrer Hilfe aber wird man die Fragen von Ilma Rakusas Lied nicht beantworten können: die Fragen nach der inneren Zeit, die in Minuten und Sekunden nicht messbar ist, nach der Dauer von Freude und Trauer, nach den Zufällen epiphanischer Augenblicke, in denen man glaubt zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, oder dem kairos, in dem man die Gunst des Schicksals beim Schopfe gepackt oder verpasst hat. „Wie lange/wie lange/wie lange“ – Solche Refrains von Worten oder Versen kennt man von Liedern. Ästhetisches Denken gestaltet sich hier in der Form der Wiederholung, die Kierkegaard einmal ein Einholen des Ewigen ins Zeitliche genannt hat und ein andermal ein Erinnern nach Vorwärts. Die Antworten der Leser auf die Fragen dieses Liedes könnten nach und nach einsetzen wie die Stimmen eines Kanons, in dem Wiederholung und Neuanfang zusammenfallen.

Ilma Rakusa versteht es meisterhaft, Freiräume für die Teilhabe ihrer Leser zu öffnen, obgleich ihre Dichtung häufig autofiktional ist, auf sehr persönliche Erlebnisse und Erfahrungen zurückgeht. „Immer wieder der Versuch, Licht in Worte zu fassen.“ So heißt der erste Satz ihres Denkbilds Licht, dann folgt ein Gang ins eigene Archiv, der diskret ist, der alles Bekennen und Erklären vermeidet, so dass die Lebensorte sogleich zu Orten der Literatur werden, zu Topoi, zu Punkten eines impressionistischen Spiels mit dem Licht von Sarajevo, Paris, Kyoto, Marrakesch, das Lücken lässt, Zwischenräume für die Einbildungskraft des Lesers. Licht stammt, wie alle Texte der Matinée heute, aus Ilma Rakusas jüngstem Buch Mein Alphabet. Es enthält neben Lyrik und Prosa auch Gespräche, ist wieder Dichtung und Wahrheit zugleich, folgt aber nicht dem Kausal- und Finalnexus einer Biographie, sondern dem Register des ABC, das alles bei- und nichts unterordnet, bei jedem Buchstaben offen ist für eine wechselnde Zahl von Einträgen. Januar Japan Joghurt. Provence Pantoffeln Publikum Prinzessin, Prinz Plausch Pappeln Poetik Palatschinken, Pasta. So heterogen wie verführerisch lesen sich die Zwischentitel. Ilma Rakusa sammelt Augenblicke, sie gelten dem, was zu gestalten am schwierigsten ist: dem Besonderen, Konkreten, in aller Gegensatzfülle des Wirklichen, auch in Städtebildern wie Ljubljana, die die wechselvolle politische Geschichte Jugoslawiens bzw. Sloweniens nicht beschönigen, vor allem aber das vorgeblich Kleinscheinende gross machen: die magischen Orte der Kindheit und die Stimmen der teuren Toten, der Schriftsteller-Freunde.

Böhmen liegt am Meer, davon haben Ingeborg Bachmann wie Shakespeare im Wintermärchen einmal geträumt, und von Menschen, die „unverankert“ sind. Ilma Rakusa gehört zu ihnen. Als „schreibende Nomadin“ hat sie sich einmal bezeichnet. Mehr Meer heißt ihr wohl bekanntestes Werk von 2009, in dem sie die vielen Länder, in denen sie aufgewachsen, in die sie gereist ist, an ein sie verbindendes Meer begnadigt und ihre Erinnerungsorte und Erinnerungsmenschen freizaubert – mit Hilfe einer Poetik des Dazwischen, des Transnationalen, die von der Vielfalt und dem Reichtum der Kulturen Europas inspiriert ist und diese fortzuschreiben weiß. Vielstimmigkeit ist der Katalysator ihrer Kreativität, als Übersetzerin wie als Autorin. Der Grundton ihrer Lyrik, ihrer Prosa aber ist unverkennbar der des Memento, der Melancholie, die keine Sentimentalität, kein bloßes Gefühl ist, sondern intellektuelle Haltung, die Fähigkeit, im Vergangenen und Vergessenen den Funken der Hoffnung wieder anzuzünden. Ihre Dichtung ist ein Erinnern nach Vorwärts. Was Ilma Rakusa über Inger Christensens Gedicht Alphabet einmal gesagt hat, gilt ebenso für ihr eigenes Werk: Mit  ihm „buchstabieren wir das Leben neu“.

Es ist ein Glück, Ilma Rakusas Werke zu lesen, und dankbar darf man, darf die Jury, darf die Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft auch sein, dass eine Kleist-Preisträgerin und Kosmopolitin wie Yoko Tawada, die – so der Titel eines ihrer Werke – in Überseezungen zu sprechen versteht, eine ihr Wahlverwandte ausgewählt hat. Bei Preisen mit berühmten Namensgebern werden ja immer zwei gefeiert: der Namensgeber und die gerade Ausgezeichnete, auf die der Glanz des vergangenen Dichterfürsten fällt. Es gilt jedoch auch die Umkehrung. Das vergisst man manchmal, und dann lehrt es erst die Zukunft. Mit Ilma Rakusa, mit Yoko Tawada ist Kleist selbst als vielstimmiger und „nomadischer Dichter“ zu entdecken. Ihn aufgrund der Herrmannsschlacht als Sprachrohr nationalen Denkens zu vereinnahmen, wie es während der Nazizeit, in der DDR und leider heute wieder in Tweets der Identitären um der Definition einer neuen, rechten deutschen Leitkultur willen geschieht, war im-mer schon falsch. Die Herrmannsschlacht ist vielmehr ein Propagandastück, das sich selbst aufhebt. Es zeigt die Trostlosigkeit einer Welt, in der Unwahrheit und Unmenschlichkeit keinen Widerspruch mehr von Seiten einer moralischen Autorität hervorrufen. Kleist taugt nicht zum völkischen Dichter. Am 21. November 2011, sei-nem 200. Todestag, fand ein world-wide-reading day statt, bei dem in 148 Städten auf allen fünf Kontinenten Kleist gelesen wurde, vorwiegend von jungen Leuten, wie man im Internet sehen konnte und zum Teil noch heute sehen kann. Sie teilten und teilen mit ihm die Erfahrung einer Umbruchs-, einer Krisenzeit, die Erfahrung des Prekären, Nicht-Gesicherten, Nicht-Stabilisierten, die allen seinen biographischen wie literarischen Experimenten zugrunde liegt, ebenso wie ein ungeheures Glücksverlangen.

Der Kleist-Preis wurde von einer vorwiegend von jüdischen Intellektuellen finanziell wie ideell getragenen Stiftung begründet, bis 1932 galt er als der erste Preis der Weimarer Republik, dann löste ihn die Kleist-Stiftung auf, damit er nicht in die Hände der Nazis fiel. 1985 begründete ihn die Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft wieder, um Vergangenheit und Gegenwart erneut im Namen Kleists zu verbinden, das Eingedenken an Kleists Werke und die Würdigung deutschsprachiger Gegenwartsdichtung. Einholen des Ewigen ins Zeitliche, Erinnern nach Vorwärts, das war und ist auch unsere Aufgabe, die wir nur bewältigen können durch die über Jahrzehnte gewährte großartige Hilfe der Holtzbrinck Publishing AG, der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien, der Berliner Senatskanzlei für kulturelle Angelegenheiten sowie des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg. Ich freue mich, den Dank wieder persönlich adressieren zu können, an Frau Dr. Zeddies und Frau Bückmann. Zu danken ist weiterhin den Schauspielern Maren Eggert und Alexander Khuon, den Musikern Philipp Beckert und Erez Ofer, dem Dramaturgen Bernd Isele und dem Intendanten des Deutschen Theaters, Ulrich Khuon, der Verlegerin Annette Knoch sowie Dr. Björn Moll, meinem Kölner Mitarbeiter, dass sie die heutige Matinée so lebendig arrangiert und die Wünsche der Preisträgerin wie der Gesellschaft so großzügig erfüllt haben. Letzteres gilt auch für die Schweizer Botschaft. Herrn Dr. Seger darf ich herzlich für den Empfang danken, den er allen Ehrengästen nach der Preisverleihung gewähren wird. Aber jetzt dürfen wir uns erst einmal auf die Laudatio von Yoko Tawada freuen.