Kleist-Preis 2018

Preisrede: Christoph Ransmayr - Kohlhaas

Michael Kohlhaas, ein an seinem unerbittlichen Glauben an irdische Gerechtigkeit zugrundegegangener Mann, den Heinrich von Kleist hoch über seine Zeit hinausgehoben und unvergeßlich gemacht hat, war mein Vater.

Gewiß, in den Urkunden meines Vaters, die ihn als unehelichen Sohn einer Schleusenwärterstochter auswiesen, stand ebenso wie in seinem von russischen Stempeln übersäten Reisepaß und stand auch in jenen Anklageschriften, in denen er der Veruntreuung und der Verleumdung beschuldigt wurde - und stand schließlich auf einem Haftbefehl, der ihn in das Gefängnis meiner Geburtsstadt einwies, noch ein anderer Name: Karl Richard Ransmayr. Aber nachdem ich als Schüler des Klostergymnasiums der Benediktiner im oberösterreichischen Lambach, kaum fünfzehn Kilometer von diesem Gefängnis entfernt,  unter der Aufsicht und Anleitung eines melancholischen Deutschlehrers Heinrich von Kleists Novellen gelesen hatte, fand ich für meinen Vater, einen nach Kleists Worten "außerordentlichen Mann, der … für das Muster eines guten Staatsbürgers hätte gelten können“, einen wahren und wie mir schien treffenderen Namen: Kohlhaas. Denn Kleist, war ich überzeugt, hatte nicht nur von einem im Kampf um sein Recht verzweifelnden Roßhändler erzählt, sondern gleichzeitig auch vom Leben meines Vaters und, ja, wie kaum ein anderer Dichter auch von meinem eigenen Leben. So wie die Liebenden aller Zeiten und Epochen im Grund ihrer Herzen miteinander verwandt und vertraut erscheinen, sind wohl auch die Dinge, die sie tun und sagen, einander ähnlich - und ebenso erschienen mir damals auch die Verzweifelten, die Elenden und Enttäuschten quer durch alle Zeiten miteinander verbunden.

Kohlhaas, mein Vater, wurde in einem strohgedeckten, von Wasserstaubwolken umrauchten Haus an einem auf regionalen Karten als Traunfall verzeichneten Katarakt geboren, über den jahrhundertelang mit Steinsalz beladenen Zillen aus den Bergwerken der Kalkalpen über ein labyrinthisches Kanalsystem in den Unterlauf des Flusses abgesenkt und an die Donau weitergeleitet wurden.  Die Schleusenwärter, die Zufluß und Abfluß in diesem System über eine Reihe von Wassertoren zu regeln hatten, führten den Namen eines Fallmeisters und waren Herren über Leben und Tod. Denn wenn es nicht gelang, eine der tonnenschweren Salzzillen über die entlang von moosbewachsenen Felswänden geführte Kanaltreppe sanft in den Unterlauf des Flusses zu lenken,  drohte den Bootsleuten Kenterung und Tod. Das Weißwasser unterhalb des großen Falls schien selbst bei sommerlich tiefen Wasserstandsmarken zu kochen. Der Salztransport auf dem Fluß war allerdings längst eingestellt und der letzte Fallmeister seit Jahren in einem von Rheuma und Gicht zerquälten Ruhestand, als seine einzige Tochter zu seiner Schande zwei uneheliche, von zwei verschiedenen, niemals preisgegebenen Vätern, vermutlich Arbeitern in einer nahen Papierfabrik, stammende Kinder zur Welt brachte. Das ältere der beiden war Kohlhaas, mein  Vater.

Unehelicher Sohn einer als Küchengehilfin in einem Lungensanatorium, später in einem Hotel namens Schiff am Ufer des Traunsees arbeitenden Fallmeisterstochter zu sein war ein nicht zu tilgender Makel. Tag für Tag, im Winter oft durch knietiefen Schnee, stieg mein Vater aus der Klamm, in der das Fallmeisterhaus im Tosen des Wassers hockte, einem Streifen Himmel über ihm entgegen und dann durch den Auwald zu jenem kilometerweit entfernten Dorf, in dem ich viele Jahre später meine eigene Kindheit verbringen sollte. Auch wenn es in diesem wie in allen Dörfern des Alpenvorlandes (und noch in meinen eigenen Schuljahren) ein böses Zeichen war, nur den Namen einer Mutter zu tragen, konnte mein Vater dieses Schandmal zwar nicht tilgen, aber, zumindest manchmal, vergessen machen. Er war ein begabtes Kind. Gefördert vom Dorfpfarrer, später von nationalsozialistischen Parteigängern im Gemeinderat, die ihn an ein Gymnasium am Traunsee empfahlen, lernte er luftige Aquarelle zu malen, Noten zu lesen, lernte Englisch, Latein, Griechisch und durch einen von Gogol, Turgenjew und Dostojewskij begeisterten Literaturlehrer in einem Freifach auch Russisch. Mit zunehmendem Wissen wuchs aber auch der Druck, nach vielen Seiten hin dankbar zu sein. Einem, dem trotz seiner beschämenden Herkunft so viel Gutes erwiesen worden war, mußten Hilfsbereitschaft, Demut, Gehorsam und Dankbarkeit zur obersten Pflicht werden. Kohlhaas ministrierte in Frühmessen, zu denen er sich um fünf Uhr morgens aufmachen mußte, weil der Weg lang war, entmistete Schaf- und Kuhställe, sammelte Roßkastanien für die Wildfütterung, schleppte Holz und Steine.

Aber als ihm die Ehre zuteil werden sollte, in eine Eliteschule der Nationalsozialisten aufgenommen zu werden, lehnte er so höflich es ihm möglich war ab. Und als er nach der mit Auszeichnung bestandenen Reifeprüfung aus seiner Ausbildung zum Lehrer ab- und zur Deutschen Wehrmacht einberufen wurde und dort eine Offizierslaufbahn einschlagen sollte, lehnte er wiederum ab. Auf meine Fragen nach seiner Vergangenheit und danach, wie ein von so viel Gutwilligkeit geförderter ehemaliger Armenschüler auf die glänzendsten Möglichkeiten seiner Zeit verzichten konnte, antwortete er: Ich wollte unter diesen Leuten nichts werden.

Nein, mein Vater war kein Mann todesmutigen Widerstandes. Aber daß er unter diesen Leuten nichts werden wollte, machte ihn zu einem der gerechtesten Menschen meines Lebens. Er wurde - nein, sagte er, nicht zur Strafe, warum, das könne doch niemand mehr sagen - auf ein Minenräumboot der Deutschen Kriegsmarine ins Schwarze Meer befohlen, wurde gefangengenommen, in ein Lager nahe dem zerstörten Sewastopol auf der Halbinsel Krym verbracht und mußte dort allen Neuankömmlingen aus deutschen Kriegsgefangenenzügen die Rede eines Lagerkommandanten aus Murmansk wieder und wieder übersetzen: Keiner von euch Hunden, schrie der Kommandant, keiner von euch Hunden wird seine Kinder, seine Frau, seine Heimat wiedersehen, bis nicht jeder Stein Sewastopols wieder an seinem alten Platz ruht und jedes erloschene Licht in den Fenstern der Stadt wieder leuchtet. Ihr Mörder, schrie der Kommandant, ihr Mörder erleidet hier nicht die Rache, die ihr verdient, sondern Gerechtigkeit.

Er habe den Kommandanten verstanden, sagte Kohlhaas. Sewastopol, das blühende Sewastopol, war im Kanonenfeuer deutscher Schlachtschiffe untergegangen. Zweimal, erinnerte sich mein Vater, wurde er von kriegsgefangenen Kameraden nach seiner Übersetzung solcher Begrüßungsreden verprügelt, einmal so schwer, daß er neun Tage in der Krankenbaracke des Lagers verbrachte und Blut erbrach. Wegen seiner Brauchbarkeit als Übersetzer kam er erst als Spätheimkehrer aus dem Krieg zurück.

Nachdem er seine pädagogische Ausbildung wieder aufgenommen hatte, Dorfschullehrer geworden war und meine Mutter geheiratet hatte, eine weichherzige Säuglingsschwester, die lange und am Ende vergeblich auf die Rückkehr eines im Krieg verschollenen Bräutigams gewartet hatte, reiste er, wann immer seine Ersparnisse es erlaubten, auf die Halbinsel Krym und nach Sewastopol und fand dort wohl auch eine Geliebte, die ihm zu Weihnachten großformatige, farbenprächtige Bildbände russischer Marinemaler schickte. Meine Mutter litt unter diesen Büchern, litt unter diesen Reisen, aber sie liebte diesen Mann. Denn welchen Sehnsüchten er auch immer folgte - er blieb nach allen Seiten dankbar und versuchte dabei auch seine Frau und seine Familie zu ehren, so gut er konnte, schrieb selbst aus seinen Sewastopoler Ferien dicke Packen, mit Zeichnungen verzierte Liebesbriefe an sein Marthele, meine Mutter, zog im Winter seine vier Kinder auf Schlitten durch den Schnee, half ihnen beim Bau von Festungen aus Flußkieseln, Lehm und Moos oder schwamm mit ihnen durch die weißen Wirbel unterhalb des großen Wasserfalls. Ich durfte mich dann an seinen Schultern festhalten und er wurde, nach seinen Worten, zum Walfisch, der mich auf seinem Rücken über alle Wirbel und Flußtiefen dahintrug.

Im Dorf war er geachtet. Er wurde Oberlehrer, sang Baßsolos in verschiedenen Chören und Balladen an Bunte Abenden, die er gestaltete, und übernahm schließlich, nachdem das Gehalt eines Lehrers für die große Familie nicht mehr reichte, eine im örtlichen Kaiser-Franz-Joseph-Jubliäums-Lehrerheim untergebrachte, eher einer  Kleinwohnung als einer Bank gleichende Zweigstelle der Raiffeisenkasse, deren Wappenspruch  einmal Einer für alle, alle für einen gewesen war. "Nicht einer", schrieb Heinrich von Kleist über meinen Vater.. "nicht einer war unter seinen Nachbarn, der sich nicht seiner Wohltätigkeit oder seiner Gerechtigkeit erfreut hätte…"

Ich erinnere mich an Abende und an die Stunden zwischen Sonntagsgottesdienst und Mittagessen, in denen Bittsteller an unserem Küchentisch saßen, etwa der verzweifelte Fleischhauer, der um die Existenz seines Ladens kämpfte, denen mein Vater gegen Handschlag Banknoten auf den Tisch zählte, Kredite, für die es, wie sich zeigen sollte, weder Bürgschaften noch Sicherheiten gab. Der Fleischhauer, ein Mann, bei dessen Anblick mich ein angstvolles Herzklopfen befiel, wenn er mir  in seiner blutigen Schürze auf der Dorfstraße entgegenkam, war der erste Erwachsene, den ich an unserem Küchentisch weinen sah. Aber mein Vater verteilte nicht nur Geld, ohne Aufsichtsräte zu befragen, sondern verfaßte als stilkundiger Lehrer auch für Bauern, Handwerker, Gastwirte, Faßbinder und Schichtarbeiter Eingaben an die Baubehörde, Gesuche an die Gewerkschaft, an Kirchenbeitragsstellen, an das Bezirksgericht. Seine Nützlichkeit wurde schließlich so überzeugend, daß ihn die Ortsbauernschaft drängte, doch als Kandidat der Christlich Konservativen für den Gemeinderat zu kandidieren.

Gegen die leidenschaftlichen Bitten und Beschwörungen meiner Mutter blieb mein Vater dankbar wie je, dankbar für die Achtung, die man ihm entgegenbrachte, für den Respekt, das Vertrauen, die Zuneigung, darunter gewiß immer wieder auch die Zuneigung von Hausfrauen, denen er leidenschaftliche Briefe schrieb und sich in den Flußauen an geheimen Nachmittagen mit ihnen traf. Er ging aus den Wahlen als stellvertretender Bürgermeister hervor. Und dieser Triumph war wohl eine der Bedingungen seines Unglücks. Denn der regierende, nun von einem Emporkömmling zur Rechenschaft gezogene Bürgermeister, Geistesverwandter einer von SS-Offizieren gegründeten politischen Bewegung, die im Österreich der Gegenwart, aber das nur nebenbei, als Freiheitliche Partei die Regierungsbank, das Innenministerium, Außenministerium, Verteidigungsministerium, Verkehrsministerium etc. besetzt hält und einem mythischen Kleinen Mann Gerechtigkeit widerfahren zu lassen verspricht.., wußte mit Konkurrenz nichts anzufangen. Die üblichen, politische Parteien seit je mehr als jedes Programm beschäftigenden Kämpfe begannen und wurden mit den üblichen, der politischen Arbeit stets nachgeordneten Mitteln geführt - üble Nachrede, Beschimpfungen, Verleumdungen. Auf diesem Schlachtfeld mußte der regierende Bürgermeister nicht lange nach der Achillesferse des Emporkömmlings suchen. War es denn nicht allgemein bekannt, daß mein Vater Kredite am Küchentisch vergab? Daß im Dorf so gut wie alle Geschäfte per Handschlag gemacht wurden, sollte schließlich nur dort geduldet werden, wo keiner der Geschäftspartner irgendwo irgendwem im Weg stand.

Einer Anzeige des Bürgermeisters folgte jener Morgen, an dem zwei Polizeiautos mit blinkendem Blaulicht im Hof vor der Schule hielten und mein Vater von fünf Gendarmen wegen des Verdachts der Untreue verhaftet und ins Gefängnis verbracht wurde. Die  Lokal- und Regionalzeitungen widmeten dieser Ungeheuerlichkeit mehrere Titelseiten in Folge. An einem der wöchentlichen Besuchstage, an denen Gefangene und Besucher einander unter uniformierter Aufsicht an von feuchten Händen und Tränen gefleckten Tischen gegenübersaßen, sah ich zum ersten Mal, wie meine Eltern sich innig küßten. Erst später, viel später erfuhr ich, daß die beiden dabei Kassiber austauschten, von denen ich zwei nach dem Tod meiner Mutter im Nachlaß finden sollte. Es waren Liebesbriefe, die keinerlei Anweisungen für das praktische Leben oder verbotene Absprachen enthielten.

Mein Vater verlor seine Stelle als Oberlehrer, verlor alle seine Funktionen in den Vereinen des Ortes und natürlich auch seinen Rang als stellvertretender Bürgermeister. Der einer langen Untersuchungshaft folgende Prozeß ergab zwar, daß der Schuldige bloß seine Befugnisse durch die Umgehung des - ohnedies uninteressierten, aus Landwirten und Handwerkern bestehenden Aufsichtsrates - überschritten hatte, ergab auch, daß alles verliehene Geld mit entsprechendem Gewinn für die Bank zurückbezahlt worden war und mein Vater sich dabei weder persönlich bereichert noch andere Vorteile bezogen hatte, aber nach dem Gesetz war der Tatbestand  der Untreue erfüllt. Die Freiheitsstrafe war entsprechend mild und entsprach - möglicherweise als Vorbeugung gegen Entschädigungszahlungen - der Dauer der Untersuchungshaft.

Aber Kohlhaas, mein Vater, wollte zum ersten Mal in seinem Leben keine Nachsicht, auch keine Milde, sondern Gerechtigkeit. "Die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen", schrieb Heinrich von Kleist über meinen Vater, "wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Dem Rechtsgefühl…"

Mein Vater weigerte sich, das Urteil anzunehmen. Hatte er sich denn nicht stets für seine Mitbürger eingesetzt, ohne dafür auch nur die geringste Gegenleistung zu fordern? Hatte er sich als Lehrer denn nicht an seinen freien Nachmittagen und auch in langwierigen Fällen ohne Entgelt um die Nachilfe von Kindern angenommen, die auf den Höfen ihrer Eltern zur Stall und Feldarbeit gebraucht wurden und denen, wenn sie am Morgen zur Schule kamen, noch das Heu oder Stroh ihrer schweren Arbeit aus den Kleidern stach?  Und hatte man ihm nicht fünf, nein: sechs! Medaillen verliehen, nachdem er in Badesommern am Fluß von plötzlich rotierenden Wirbeln erfaßte Schwimmer bei Gefahr für sein eigenes Leben vor dem Ertrinken gerettet hatte?

Kohlhaas legte also Berufung ein. Dieser Einspruch beließ sein Verfahren aber in der Schwebe, was bedeutete, daß er bis auf weiteres nicht wieder in den Schuldienst, bis auf weiteres auch nicht wieder in sein altes Leben aufgenommen werden konnte. Berufung. Mein Vater war überzeugt, daß diese Entscheidung  nur zu einem Resultat führen konnte, einem Freispruch. Nichts anderes würde er, nichts anderes konnte er annehmen.

Die Witwe eines Kohlenhändlers, die ihm vor dem Krieg als Frau versprochen war, die bei seiner späten Heimkehr aber längst verheiratet und nun erst wieder alleinstehend war, beschaffte ihm ein erstes Darlehen für die Kosten des Verfahrens. Kohlhaas nahm dazu Arbeit am Fließband in einer Großtischlerei, dann aber in einer der Papierfabriken am Fluß an - weil ihm nur dort fortwährende Nachtschicht erlaubt wurde. Er schlief tagsüber und fuhr mit einem Moped täglich, auch bei Regen und Schneefall, zur Nachtschicht um 22:00 Uhr, in die Finsternis. Er wollte im Dorf nicht gesehen werden und wollte auch niemanden sehen, bis sein Freispruch bestätigt sein würde. Ich erinnere mich an einen Alteisenhändler, der, auch dies nur nebenbei, mit einem Dichter namens Thomas Bernhard aus dem Nachbardorf gelegentlich Geschäfte machte, wenn der Dichter nach stilgerechten Ausstattungen für einen seiner Höfe suchte. Der Alteisenhändler, ein Parteifreund des regierenden Bürgermeisters und wegen einer Reihe fehlender Zähne an seiner Aussprache selbst am Telefon zweifelsfrei erkennbar, rief monatelang und manchmal tiefnachts, wenn Kohlhaas am Fließband stand, in unserer Wohnung an und brüllte den Kindern des Angeklagten oder seiner Frau ins Ohr, ihr Mann, unser Vater, der verurteilte Dreckslehrer, sei ein Hurensohn und Verbrecher, den man nicht einsperren, sondern aufhängen sollte.

Heinrich von Kleist schrieb über diese Tage: "Es fehlte Kohlhaas … keineswegs an Freunden, die seine Sache lebhaft zu unterstützen versprachen … Gleichwohl vergingen Monate, und das Jahr war daran, abzuschließen, bevor er … auch nur eine Erklärung über die Klage, die er … anhängig gemacht hatte, geschweige denn eine Resolution selbst, erhielt."

Zu Kohlhaas' engsten Freunden, die sich als Feinde des regierenden Bürgermeisters verstanden, gehörten ein Bäcker, ein Fuhrwerksunternehmer und ein Gastwirt, Ehrenmänner des Dorfers, die ihm dringend empfahlen, doch nun seinerseits zweifelhafte Geschäfte des Bürgermeisters zur Anzeige zu bringen, sie würden das Material dazu liefern. War denn nicht mitten im Auwald, einer Flußlandschaft, in der neben anderen Orchideengewächsen selbst der seltene Frauenschuh gedieh, den die Himmelskönigin Maria auf ihrem Weg ins Paradies getragen haben sollte, nun gegen alle Naturschutzbestimmungen ein Tümpel voll Ölschlamm, giftiger Schlacke zum Vorteil einer Ölbohrgesellschaft entstanden? Und waren denn nicht Bauaufträge ohne Ausschreibung vergeben und Geistesverwandte mit Schotterlieferungen aus gemeindeeigenen Gruben  bedacht worden?

Wie in den Jahren seines verlorenen Glücks war Kohlhaas auch diesmal bereit, Wohlmeinenden dienstbar zu sein, ging es doch nun auch um sein eigenes Schicksal. Er schrieb also einen Brief an die Behörde, listete darin die von den Freunden vorgeschlagenen zweifelhaften Unternehmungen des Bürgermeisters auf und blieb auf den Rat der Wohlmeinenden hin als Verfasser anonym. Wer würde denn, war ihm geraten worden, einem Angeklagten, der die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Verbrechen eines anderen lenken wollte, Glauben schenken? Auch wenn der Bäcker, der Gastwirt und der Fuhrwerksunternehmer nicht leugnen wollten, daß der Untergang des Bürgermeisters auch ihnen Vorteile verschaffen würde, konnte es Kohlhaas doch nur nützen, wenn sein Ankläger nun seinerseits im Zwielicht erschien.

Die Behörde wollte die erhobenen Beschuldigungen zwar nicht bestätigen, konnte aber das Schreiben durch den aufliegenden Schriftverkehr zur Berufungsverhandlung diesem Kohlhaas zuordnen, der daraufhin der Verleumdung bezichtigt wurde. Die einflüsternden Ehrenmänner, Bäcker, Fuhrwerker und Wirt, gaben im Ermittlungsverfahren zu Protokoll, sie hätten über das betreffende Schreiben zwar irgendwann gesprochen, das ja, es aber um Himmelswillen nicht  verfaßt und um Himmelswillen nicht abgeschickt und also um Himmelswillen damit nichts zu tun.

Ich las in diesen Tagen Heinrich von Kleists Novelle vom Roßhändler zum dritten Mal und träumte von einem triumphalen Ende aller Prozesse, träumte davon, daß mein Vater sich in einem Siegeszug im Dorf zeigen würde: "… ein großes Cherubsschwert, auf einem rotledernen Kissen, mit Quasten von Gold verziert, ward ihm vorangetragen, und zwölf Knechte, mit brennenden Fackeln folgten ihm …"

Tatsächlich aber wurde Kohlhaas, noch bevor sein Berufungsverfahren in anderer Sache entschieden war, wegen Verleumdung, wenn auch noch einmal unter Berücksichtigung mildernder Umstände, zu einer weiteren bedingten Gefängnisstrafe verurteilt. Der Abstand zu seinem früheren bürgerlichen Leben schien damit ein unüberbrückbarer Abgrund geworden zu sein.

Als nach fünf Jahren Nachtarbeit am Fließband der Papierfabrik und schon jenseits aller Hoffnungen ein Berufungsgericht entschied, daß mein Vater als Kassier zwar seine Befugnisse überschritten habe, er aber tatsächlich weder ein Betrüger noch ein Dieb sei und ihm deswegen alle Rechtsfolgen seiner Verurteilung erlassen wurden - er konnte also in allen Ehren wieder in den Schuldienst aufgenommen werden und durfte auch seine verlorenen Ehrenämter wieder bekleiden -, starb meine Mutter. Sie hatte in den Jahren der Unsichtbarkeit ihres Mannes die Lasten wie die Repräsentation der Familie in allen Belangen allein getragen, hatte anonyme Briefe geöffnet und meinem Vater verschwiegen, hatte die Verfluchungen des Alteisenhändlers und andere Demütigungen schweigend ertragen. So wie sie Kohlhaas einst beschworen hatte, er solle sich keiner Wahl stellen und keine Anschuldigungen gegen Stärkere erheben, so hatte sie ihren Mann, wenn er von seinen Nachtschichten zurückkehrte, auch beschworen, den Selbstmord, von dem er immer wieder sprach, wenigstens um seiner Kinder und seiner Frau willen nicht zu begehen. Aber das schmerzhafte Gewicht dieses Lebens war ihr am Ende zu schwer geworden. Über ihre letzten Stunden schrieb Heinrich von Kleist, daß sie dem Priester, der in ihr Sterbezimmer getreten war, die Bibel aus der Hand nahm, darin „blätterte und blätterte, und … etwas zu suchen schien; und zeigte dem Kohlhaas, der an ihrem Bette saß, mit dem Zeigefinger, den Vers: "Vergib deinen Feinden; tue wohl auch denen, die dich hassen.“

Nach ihrer Bestattung auf dem Dorffriedhof lehnte mein Vater die Wiederaufnahme in die dörfliche Gemeinschaft ab und begann alle Vorbereitungen zu treffen, das Dorf, in dem er sein Leben verbracht hatte und in dem ihm nun sogar die Stelle eines Schuldirektors angeboten wurde, zu verlassen, „weil ich“, ließ Heinrich von Kleist ihn sagen „weil ich in einem Lande … in welchem man mich, in meinen Rechten, nicht schützen wollte, nicht bleiben mag.“

Kohlhaas löste die Wohnung im Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläums-Lehrerheim auf - ich erinnere mich an einen mit Sommerkleidern meiner Mutter vollgestopften Mülleimer, von dessen Rand mit Blumen gemusterte Ärmel winkten, als ich ihm bei der Räumung zu Hilfe kommen wollte - und übersiedelte in den Geburtsort meiner Mutter, der am Unterlauf jenes Flusses lag, in dem die Salzzillen einst nach der Überwindung des Großen Falls wieder ruhig dahingeglitten waren. Dort lebte er bis zu seinem Ruhestand als einfacher Lehrer und Gemeindebibliothekar in einer dunklen, winzigen Wohnung, von deren Fenstern er an allen Tagen des Jahres Singvögel fütterte, von denen er jeden einzelnen an seinem Gesang erkannte. Wenn es etwas Ehrenvolles von seinen Kindern zu berichten gab, etwa von den Karrieren seiner Tochter, die in der Kanzlei des Anwaltes von Thomas Bernhard die Tagsatzungen abwickelte, oder von seinen Söhnen, die Lehrer, Schauspieler und Schriftsteller geworden waren, kopierte er die entsprechenden Nachrichten, auch Zeitungsausschnitte, auf dem Postamt des Dorfes und versandte sie an alle Wohlmeinenden, um ihr Vertrauen in ihn und seine Familie zu rechtfertigen. Dreimal jede Woche fuhr er mit dem Postbus zum Grab meiner Mutter, entzündete dort Kerzen und erneuerte einen dadurch niemals verblühenden Blumenstrauß in einer Steckvase aus braunem Plastik..

Auch an seinem eigenen Todestag, viele Jahre nach dem Drama seines Untergangs, wartete er an einer Bushaltestelle, von der aus das Benediktinerkloster, in dem ich zur Schule gegangen war, wie eine alles Land überragende Festung zu sehen war. Wir waren an diesem Tag am Grab meiner Mutter verabredet und wollten dann in einen Gastgarten, der weit draußen zwischen Weizenfeldern lag. Seine letzte Freundin, eine pensionierte Gemischtwarenverkäuferin, wollte ihn, wie schon so oft, auch diesmal begleiten und saß neben ihm auf der Wartebank der Bushaltestelle und hielt seine Hand, als er plötzlich ohne ein Zeichen des Schmerzes oder des Erschreckens und ohne ein Wort vornüber sank. Sie konnte ihn nur mit Mühe halten und verhindern, daß er auf das Straßenpflaster fiel. Während Bus um Bus ankam und wieder abfuhr und sich eine Menge von Neugierigen staute und wieder verlief, erklärte ein unter Blaulichtblitzen eingetroffener Notarzt meinen Vater für tot. Er wurde vom örtlichen Bestatter in die Leichenkammer des Benediktinerklosters gebracht. Hinter meterdicken Mauern schienen sich dort noch Frühlingstemperaturen erhalten zu haben. Dabei war draußen Sommer. Ein brütend heißer Tag im Juli.

Als ich diese dämmrige Kammer kaum eine Stunde nach der Todesnachricht betrat, sah ich Kohlhaas in sommerlicher Kleidung, wie bereit zu einem Nachmittag am Fluß, auf einem Katafalk liegen. Der plötzliche Herztod hatte sein Gesicht, seine Arme blauviolett verfärbt. Das wird verschwinden, sagte der Bestatter, dieses Blau wird verschwinden. Am Abend wird ihr Vater wieder sein, wie er war.

Ich stand lange an der Bahre und habe vergessen, ob es Sekunden oder Minuten dauerte, bis ich begriff, daß ich den Körper wieder und wieder nach einem Lebenszeichen absuchte, einem Atemzug, einem Pulsschlag, einer sanften, kaum merkbaren Dehnung des Brustkorbs… Aber vor mir lag nur der Leichnam eines freien Mannes.